Der Psycho-Druck des Coronavirus hat auch sein Gutes. Er sortiert gnadenlos aus – und zeigt, welche Menschen uns in der Isolation gut tun und welche nicht
"Ich habe immer noch diesen Traum", sage ich in die Kamera. "Mir fehlt ein Schein an der Uni und ich muss tatsächlich wieder zurück. Noch ein Semester absitzen. Aahhhhh! Und dann wache ich auf". Kollektives Aufstöhnen. "Ich auch!", brüllt es mir entgegen.
Es ist schon eine seltsame Situation. Ich sitze am späten Abend in meiner Küche, die Kinder schlafen. Mein Handy thront auf einer grauen Keksdose mit rosafarbenen Punkten, darauf eine halbvolle Flasche Rhabarbersaft, an der das Telefon lehnt. Auf dem Bildschirm zwei Freunde, mit denen ich studiert habe. Wir wohnen seit mindestens 15 Jahren zu weit voneinander entfernt, um uns mehr als ein paar Mal im Jahr zu sehen. Familie, Beruf, das Übliche eben. Auf die Idee uns per Videokonferenz miteinander zu verbinden, sind wir noch nie gekommen. Erst als Corona unseren Alltag veränderte. Den der ganzen Welt.
Auf eine Zombie-Apokalypse waren wir alle vorbereitet. Erstens: Immer auf den Kopf zielen. Zweitens: Schutz in einem hohen Gebäude suchen. Drittens: Okay, am Ende auch ein Zombie werden. Das hier ist anders. Eine Krankheit lässt sich nicht so leicht erkennen. Wir merken auf einmal, welche Freiheiten wir genossen haben, ohne sie zu schätzen. Im Biergarten sitzen, Konzerte besuchen, im Fußballstadion einander in die Arme fallen. Simple Dinge, wie vor die Tür zu gehen, wann wir wollen, um einfach das zu tun, wonach uns ist. Diese Privilegien sind weg und wir wissen nicht, wann und ob sie überhaupt wieder kommen. Wir sitzen zu Hause fest und warten. Wir erstellen Tagespläne, um so etwas wie Normalität zu simulieren, wo es keine gibt, obwohl wir eigentlich nur auf der Couch liegen, Chips in uns hereinstopfen und alle Staffeln von "Friends" schauen wollen.
Es ist aber auch eine Chance. Zurückgeworfen auf mich selbst, merke ich auf einmal, was wirklich wichtig ist. Und vor allem wer. Der Psycho-Druck des Coronavirus sortiert gnadenlos aus. Er offenbart, welche Menschen mir guttun und welche nicht. Wem ich Zeit widmen möchte, wer in dieser Zeit eine Hilfe, eine Stütze oder einfach nur eine Ablenkung ist. Meine Kinder, natürlich, die unbeeindruckt "von dem Corona", jeden Morgen alle ihre Stofftiere im Kreis versammeln, "Hallo, hallo, schön, dass du da bist" singen und für die schlechte Laune nur Zeitverschwendung ist. Es sei denn, es geht darum zu verstehen, warum man Nutella nicht zum Frühstück, Mittag- und Abendessen aufs Brot schmieren darf. Was in ihrer Welt definitiv das größere Übel als diese seltsame Krankheit ist.
Meine Frau, die auf einmal rund um die Uhr für die Kinder verantwortlich ist, weil ihr Arbeitgeber alle Geschäfte geschlossen hat. Sie es dabei aber trotzdem schafft, so etwas wie Normalität für uns alle zu schaffen. Meine Mutter, die trotz Rentenalters noch immer in der Pflege arbeitet. Der kurz vor den Ausgehbeschränkungen der Balkon abgerissen wurde, einem größeren, schöneren sollte er Platz machen. Jetzt hat Corona diesen Balkon und sonnt sich. Wann das Virus ihn wieder herausrückt, weiß sie nicht. Sie lässt sich trotzdem nicht davon unterkriegen. Sie schaut aus dem Fenster und erfreut sich an den Weinbergen. So wie sie es schon immer getan hat.
Ach ja, und natürlich Freunde. "Weißt du noch, Professor Dedner, wie der dann am Ende vom Semester gefragt hat: 'Kenne ich Sie?'", schallt es aus dem Lautsprecher des Handys. "'Klar, wir haben immer hinter der Säule gesessen!" Kollektives Losprusten. Seit langer Zeit zieht sich wieder ein breites Grinsen über mein Gesicht. Für einen kurzen Moment sind all die Anspannungen, die Sorgen der letzten Tage vergessen. Ich weiß: Es wird besser werden. Irgendwann. Bis dahin umgebe ich mit denen, die mir guttun. Auch, wenn es nur auf einem kleinen Handy-Bildschirm ist.