Zum Glück wusste der Postbote nicht, dass er die Glaubwürdigkeit des anonymen Internets in den Händen trägt. Sonst hätte er seine Nase vielleicht etwas tiefer in den Luftpolsterumschlag gesteckt. So versenkt er das Gramm Amphetamine um acht Uhr morgens zwischen Stromrechnung und Möbel-Roller-Werbung.
"Spitzenqualität" hat Drogenhändlerin Trudy vier Tage zuvor im verschlüsselten Chat versprochen. 10 Ecxtasy-Pillen für 70 Euro. 130 Euro für ein Gramm Kokain. "Afghanische Qualität". Geld-Zurück-Garantie. 121 positive Kundenbewertungen. Im Darknet kauft man Heroin wie Bücher auf Amazon: mit Vorschaubild und Kundenrezensionen.
Es ist ein Teil des Internet und dennoch fernab staatlicher Kontrolle, auf dem Trudy ihren kleinen Drogenversand betreibt: Ohne Facebook und Google. Ohne Großraumserver, in denen jede IP-Adresse protokolliert wird. Ohne Angst vor Geheimdiensten. Im Gegensatz zum konventionellen Netz ist im Darknet jede Kommunikation verschlüsselt und anonym. Anstatt über zentrale Server fließen die Daten über Privat-PCs. Webseiten sind nur mit spezieller Anonymisierungssoftware zugänglich.
Das Ergebnis: Millionen von Webseiten bieten dort so ziemlich alles, worüber sich ohne den Schutz der Anonymität nur schlecht reden lässt. Von einem Abgrund aus Terroristen, Waffenhändlern und Pädophilen klagen staatliche Behörden. Die Freiheiten für Dissidenten und Aktivisten bejubeln seine Befürworter.
Wie das normale Internet in langsam und hässlichIrgendwo dazwischen sitzt der "Versand aus Norddeutschland". Zwei Wochen und ein Dutzend verschlüsselter E-Mails hat es gedauert, um Trudy zumindest einen kleinen Teil ihrer Anonymität abzuschwatzen. "Früher haben wir Passanten vor Bahnhöfen angequatscht", schreibt sie im verschlüsselten Chat. Heute hat sie drei Angestellte: Einkauf. Kundenbetreuung. Versand.
Zwei Klicks entfernt findet man fast alles, was sich unter dem Schutz der Anonymität zu Geld machen lässt: Gehackte Paypal-Accounts. gestohlene Kreditkartennummern, "Herr der Ringe" als E-Book. Ein EU-Pass kostet 5000 Euro. Wirklich düster ist der Abstieg in dieses "Dunkle Netz" nicht, eher langsam und hässlich. Die Software Tor öffnet nicht nur selbiges zur Anonymität, sondern auch zu einer Zeitreise in die wilden Neunziger, als langsame Modems noch mit kratzendem Pfeifen die Einwahl verkündeten: Kaum Bilder, keine Videos, keine penetrante Werbung. Stattdessen viel Text, ewige Ladezeiten und verwaiste Links.
Wahrgewordene UtopieDoch das Darknet als Retro-Netz für Kleinkriminelle abzutun, ist in etwa so, als reduziere man den Arabischen Frühling auf das Müllproblem auf dem Tahrir-Platz. Als der ägyptische Diktator Hosni Mubarak 2011 das Internet ausschaltete, flüchteten sich ägyptische Aktivisten in die anonymen Foren. Die meisten WikiLeaks-Informanten sollen im Darknet ihre Dokumente übermittelt habe. Die "New York Times" bietet ein Portal für Whistleblower, die "taz" versuchte es zumindest einmal. Chinesische Dissidenten machen hier ihrer Wut auf die KP Luft. Hinter endlosen Manifesten bitten US-Tierrechtsaktivisten um Spenden in der anonymen Digital-Währung Bitcoin.
Von einer "Zivilisation der Gedanken im Cyberspace", die "menschlicher und gerechter sein werde, als die Welt, die Eure Regierungen bisher errichteten.", sprach der Online-Bürgerrechtler John Perry Barlow 1996. Noch heute gilt seine "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace " als eine Art Manifest des Darknets: "Ich erkläre den weltweiten sozialen Raum (...) für unabhängig von der Tyrannei, die Ihr uns auferlegen wollt." In der Signatur des syrischen Aktivisten, der aus den Trümmern Aleppos zum verschlüsselten Chat einlädt, wirkt das Zitat wie eine wahrgewordene Prophezeiung.
In fünf Minuten zum KinderpornoDer Weg, der aus der "Tyrannei" führt, ist leichter als die Anmeldung bei Facebook. Tor ist eines der Programme, die Daten durch das dezentrale Netzwerk leiten, verschlüsseln und anonymisieren. Spezielle Fähigkeiten verlangt die Freiheit nicht: Herunterladen. Draufklicken. Drin. Jene Freiheit, die die Anonymisierung auch bietet zeigt sich nur ein paar Klicks entfernt: "14-jähriger Boy, blonde Haare, perfekter Körper, zwei Stunden für dich im Video-Chat." Dass sich im Schutz der Anonymität auch Kriminelle verbergen, mag nicht überraschen. Erschreckend ist, wie leicht zugänglich jene menschlichen Abgründe sind: Zwei Klicks vom "Hidden Wiki" - einer Art Startseite des Darknet - entfernt werden gegen Bitcoins Bilder von Minderjährigen angeboten. Die nach "Boy" und "Girl" getrennten Alterskategorien: 0-4 / 5-8 /9-12.
Im Pädophilenforum fragt "Daddylove", wie man Kinder dazu bringe, nicht über ihren Missbrauch zu reden. "Hatte Sex mit elfjähriger Russin. Schöne Bilder gemacht", freut sich ein anderer. "Ficke meine siebenjährige Tochter vor Webcam", lautet ein Eintrag unter Tausenden im Kleinanzeigen-Portal für Kinderschänder. Der Preis für die Zerstörung eines Lebens: Drei Bitcoins - etwas 450 Euro. Darüber der Sicherheitshinweis: "Achtet darauf, dass eure TOR-Version auf dem neuesten Stand ist."
Rechtlos ist es. Frei von Richtern ist das Darknet jedoch nicht: "Light in the Dark", nennt sich eine Gruppe mit dem Ziel, moralische Grundregeln auch in der Anonymität umzusetzen. Andere gehen weiter und machen Jagd auf Pädophile. Die meisten Seiten, die mit Kindesmissbrauch werben, sollen Lockangebote sein, um die "Säcke zu kriegen". "Beim kleinsten Hinweis auf ihre Identität - E-Mail-Adresse, Wohnort - werden die Hinweise an die Polizei übergeben", schreibt "Ranger_47". Scheinbar mit Erfolg: 1600 Namen von Pädophilen veröffentlichte allein die Hacker-Gruppe Anonymous im Jahr 2011. Berichte über erfolgreiche Polizeiermittlungen im Darknet, gibt es hingegen kaum.
Darknet is what you make of it"Das Darknet reinigt sich selbst", ist "Ranger_47", der Pädophilenjäger, überzeugt. Doch auch seine Rolle ist so ambivalent, wie das anonyme Netz selbst. Wie Trudy betreibt er einen kleinen Versandhandel. In einen Luftpolsterumschlag passen seine Lieferungen nicht. "Meine Waffen sind für die Jagd. An Killer verkaufe ich nicht", schreibt er. Wie er das kontrollieren will, warum es zwischen Luftgewehren auch eine Polizeiwaffe für knapp 2000 Euro zu kaufen gibt, will er nicht sagen: "Du kannst auch vom Auto überfahren werden. Trotzdem verbietest du keine Autohändler."
"Wir sind ein gut eingespieltes Team. Professionell. Diskret. Sauber", wirbt ein weiterer dieser "Autohändler". Auch Geschichten über Auftragsmörder gehören zum Mythos des Darknet. Vermeintliche Angebote gibt es viele. Hinweise, dass hier tatsächlich jemals erfolgreich Morde in Auftrag gegeben wurden, gibt es nicht. "Glaube nicht alles, was du siehst", sagt auch Drogenhändlerin Trudy. Viele Seiten hätten sich darauf spezialisiert, jene Schaulustigen abzuzocken, die einmal das Abenteuer Darknet erleben wollen. "Gegen Vorkasse versprichst du alles", sagt sie. Neben ihrem Namen prangt das Angebot von "100 Prozent reinem Koks.".
Treffender formuliert es einer ihrer Konkurrenten: "Das Darknet ist, was du daraus machst", bemüht dieser ausgerechnet einen Google-Werbeslogan. Nur das kleine Hanflogo und der AGB-Zusatz findet sich beim datenhungrigen Suchmaschinenbetreiber nicht: "100 Prozent anonym. Was ihr damit macht, ist Eure Sache."
Rétablir l'original