1 abonnement et 3 abonnés
Article

Die Folgen von Verlust- und Bindungsangst

Je mehr Beziehungen wir führen, desto mehr Verletzungen erleben wir. Die Folge sind immer mehr Menschen, die unter Symptomen von Verlustangst und Bindungsangst leiden

Wir lernen aus unseren Erfahrungen. Wenn wir Fehler machen, dann wollen wir diese - in den meisten Fällen - nicht noch einmal erleben. Wenn wir verletzt wurden, dann wollen wir eine erneute Verletzung vermeiden. Hierzu entwickeln wir Schutzstrategien, Verhaltensweisen, die verhindern sollen, dass wir uns erneut so schlecht fühlen müssen wie zuvor. Die Angst vor Verletzungen formt unsere Glaubenssätze und aus Angst entstehen Schutzstrategien, um gefährliche Situationen zu vermeiden. Viel Angst bedeutet hohe Vermeidung. Beim Ghosting oder Benching steht die Furcht vor dem direkten Konflikt im Vordergrund. Eine Seite will sich einfach nicht mit den Reaktionen der anderen auseinandersetzen müssen. Konfliktvermeidung aus Furcht - dadurch, dass man verschwindet wie ein Geist.


Dank der vereinfachten Kontaktaufnahme durch Dating-Angebote müssen Singles heute immer weniger Angst vor direkter Zurückweisung haben - sie verlernen dabei aber auch, mit Zurückweisung umzugehen. Nicht wenige Partnersuchende schreiben dann Bücher über die schlimmsten Dates ihres Lebens, die ganz offensichtlich wie traumatische Erfahrungen waren. Wer sich diese schlimmen Erfahrungsberichte ansieht, gewinnt leicht den Eindruck, Partnersuche sei Krieg. Manche Singles stürzen sich deshalb in Selbstoptimierung. Sie versuchen jeden Korb zu vermeiden, indem sie sich zu dem vermeintlichen Traumpartner optimieren, den sie sich selbst wünschen: durch mehr Sport, mehr außergewöhnliche Freizeit-Aktivitäten, mehr Anerkennung ...


Hinter der ganzen Selbstoptimierung verbirgt sich ein verletzter Selbstwert, der aber nicht gestärkt, sondern nur neu gestrichen und bemalt wird. Das macht Singles dann so empfänglich für Phänomene wie Love Bombing, ebenfalls ein Warnzeichen in Beziehungsphasen: Wenn ein ebenso unsicherer Mensch, meist mit starken narzisstischen Persönlichkeitsanteilen, sich so sehr um Sie bemüht, dass Sie endlich einen Moment lang ihre Angst vergessen können. Geht die Beziehung dann schief, ist die Verletzung umso tiefer, je euphorischer der Auftakt erschien.


Nehmen Verlust- und Bindungsangst zu?


Bindungsangst ebenso wie Verlustangst nähren sich durch einen verletzten Selbstwert. Und der basiert auf negativen Glaubenssätzen und Überzeugungen wie „ich bin nicht wichtig“, „ich schaffe das nicht“ oder „ich falle zur Last“. Solche Glaubenssätze entstehen in der frühen Kindheit in der Beziehung zu den Eltern oder Bezugspersonen, sie werden aber im Leben auch beeinflusst durch die Erfahrungen in Liebesbeziehungen, also durch die eigene Beziehungshistorie. Wer einmal schmerzhaft erlebt hat, betrogen worden zu sein – ohne Vorwarnung, aus heiterem Himmel –, stellt alles in Frage: „Wie konnte ich das nicht bemerken? Was stimmt nicht mit mir?“ Der Selbstwert leidet, das eigene Empfinden auch, der Wahrnehmung wird nicht mehr vertraut.


Vermutlich haben Menschen noch nie so viele Liebesbeziehungen in ihrem Leben geführt, wie wir das heute tun. In der Jugend verliebt, dann geheiratet und zusammen bis zum Tod, das Modell ist nicht mehr üblich. Wir führen zwei bis drei feste Partnerschaften im Leben und zahlreiche kurze Beziehungen dazwischen. Und strenggenommen sind auch die Flirt-Beziehungen, wie sie zahlreich durch Dating Apps entstehen, kleine Partnerschaften. Sie sind vielleicht nicht so verbindlich, doch sie fühlen sich häufig – zumindest für einen Partner – so an. Und wenn sie beendet werden, dann ist der Trennungsschmerz unabhängig von der Beziehungsdauer dennoch groß.


Es ist also überhaupt kein Wunder, dass Menschen  – bewusst und unbewusst – alle möglichen Schutzstrategien entwickeln, um weitere Verletzungen des Selbstwertes zu vermeiden. Die einen geben sich nun extra Mühe und wollen beweisen, dass sie liebenswürdig sind – und geben sich dabei auf. Die anderen tun alles, damit ihnen niemand mehr so nahe kommen kann, dass er sie dann verletzen könnte. Unerreichbare Partner, maßlos überhöhte Ansprüche sind beispielsweise effektvolle Vermeidungsstrategien, derer sich die Betroffenen selten bewusst sind. Im Gegenteil scheint sich die Welt gegen sie verschworen zu haben, sie wünschen sich ja so sehr Nähe und Liebe – nur weiß das niemand zu würdigen, so scheint es ihnen.


In Wirklichkeit ziehen sie aus dieser Position der Schwäche nur Personen an, die ebenfalls einen verletzten Selbstwert haben und ihre Kraft aus den Bemühungen anderer ziehen. Die Folge ist jene unglückliche Paar-Dynamik, in der einer den anderen auf Distanz hält und bei jedem Rückzug den Partner animiert, noch mehr zu investieren. Irgendwann hält das Paar das nicht mehr aus, und die Beziehung zerbricht oder das Kennenlernen wird abgebrochen. Jeder fühlt sich bestätigt, dass die Partnersuche anstrengend und verletzend ist. Man stellt die Fähigkeit zur Verbindlichkeit in Frage – und der Kreislauf aus Schutzstrategien beginnt erneut. Allerdings machen die alles nur schlimmer, nicht besser. Sie festigen die Muster sogar.


Verletzte Singles zeigen typische Verhaltensweisen von Verlust- und Bindungsangst

Selbstwert, das belegen zahlreiche Studien, wird durch soziale Medien nicht gerade gestärkt. All die glücklichen Paare auf Instagram, die Händchen haltend die schönsten Strände und Plätze der Erde bereisen und Hunderttausende Follower haben. Als Betrachter sitzt man irgendwo, will sich kurz ablenken vom stressigen Alltag und auf andere Gedanken kommen und ist also nicht in der Verfassung, anderen Menschen alles Glück der Welt zu wünschen, sondern man wünscht sich selbst ein Stück dieses Glücks. Dann flüstert da eine Stimme: „Warum habe ich nicht, was die haben?“ Und das Selbstwertgefühl erhält einen Tritt.


Auch Bücher, Filme und Serien sind heute so auf Erfolg gescriptet, dass Liebesbeziehungen keine Sekunde mehr realistisch dargestellt werden. Jede Szene muss dramaturgische Zwecke erfüllen. Da gibt es nicht das Schweigen nebeneinander auf dem Sofa nach einem langen Tag, nicht die Stunden Warten auf die nächste Textnachricht – kein Zuschauer würde dafür bezahlen. Diesen Effekt, die eigene Liebesbeziehung nach unrealistischen Vorbildern ausrichten zu wollen – und an dem Anspruch zu scheitern –, nenne ich die „Disneyfizierung der Liebe“.


Fast alle Singles wünschen sich den Partner, mit dem alles Glück erlebbar wäre – am liebsten ein Leben lang. Eine falsche Partnerwahl jedoch ruiniert dieses Ziel. Kein Wunder, dass gerade bei diesem hohen Anspruch gleichzeitig die Angst vor der falschen Partnerwahl immer größer wird. Besonders wenn die gemachten Erfahrungen die Furcht nur noch weiter bestätigen. Zur Liebe gehört Mut. Genau das Gegenteil von Angst.


„Ich kann nie wieder vertrauen“ ist ein Satz, den viele Betroffene wie ein unveränderliches Schicksal verwenden. Doch das ist nicht richtig. Auch solche Verletzungen lassen sich heilen. Es gibt zahlreiche bewährte Methoden, sogar mit traumatischen Erlebnissen neu umgehen zu lernen und neue Glaubenssätze zu entwickeln. Beispielsweise ACT (Akzeptanz- und Commitment-Therapie) oder auch Ressourcenaktivierung mit EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) zeigen vielversprechende Erfolge.


Wenn Sie für sich erleben, dass Sie von Verlustangst und Bindungsangst geplagt werden und kein Vertrauen mehr entwickeln können, lassen Sie sich helfen. Warten Sie nicht darauf, dass es von alleine besser wird – das wird es nicht! Und das Leben ist zu kurz, um es dabei zu belassen.


Warum bin ich Single? Stimmt etwas nicht mir? Bin ich beziehungsunfähig?


Das Geheimnis erfolgreicher Partnersuche und Partnerwahl ist unsere Bindungshaltung oder unser Bindungssystem. Das ist dafür verantwortlich, ob wir sicher, ängstlich oder vermeidend Bindungen eingehen.

Rétablir l'original