Für die Betroffenen hieß es fast 50 Wochen Zittern. Vor einem Jahr hatte ein erster Entwurf von Jens Spahns Intensivpflege-Gesetz für Empörung gesorgt: Demnach sollte die Intensivpflege zuhause nur noch in Ausnahmefällen möglich sein. Spahn besserte nach; ein neuer Entwurf. Viele Intensivpatienten und ihre Angehörigen fürchteten weiterhin um ihre Selbstbestimmung. Ihre Angst: Die Krankenkasse könnte die Intensivpflege zuhause nicht mehr zahlen - und den Betroffenen damit keine andere Wahl lassen, als ins Heim umzuziehen. Seit gestern ist das Gesetz im Bundestag durch. Sorgen gibt es immer noch.
Spahn: Kein Heimzwang, sondern QualitätspflichtDas "Intensivpflegestärkungsgesetz" (IPReG) soll die Intensiv-Versorgung außerhalb der Klinik verbessern - also zuhause, in einer Pflege-WG oder im Heim. Es geht um schwerstkranke Menschen, die rund um die Uhr Pflege brauchen, etwa Querschnittsgelähmte oder Multiple-Sklerose-Patienten.
Auch unter dem Eindruck krimineller Pflegedienste, die betrügerisch abrechneten und ihre Patienten schlecht versorgten, entstand vonseiten der Politik der Wunsch nach mehr Kontrolle und Qualität. Laut Gesetz sollen Pflegedienste künftig besondere Anforderungen wie ein Qualitätsmanagement erfüllen. Außerdem sollen nur qualifizierte Vertragsärzte Intensivpflege verschreiben dürfen und Patienten, wenn möglich, rasch vom Beatmungsgerät entwöhnt werden.
Die Intensivpflege zuhause ist zwar weiter möglich. Allerdings sind einmal im Jahr Kontrollbesuche durch den Medizinischen Dienst vorgesehen. "Hier geht's nicht um Heimzwang, hier geht's um Qualitätspflicht", sagte Jens Spahn gestern im Bundestag.
Nehmen Kostenträger Einfluss auf den Wohnort?Viele sorgen sich weiterhin, dass die Krankenkassen Einfluss darauf nehmen, wo Intensivpatienten leben. Im Gesetz heißt es: "Berechtigten Wünschen der Versicherten ist zu entsprechen." Eine bessere Chance auf Selbstbestimmung für Patienten: Zwei Tage vor der Abstimmung war das noch viel schwammiger formuliert.
Auch bei Pflege-Mängeln zuhause darf die Kasse nicht einfach aufhören, zu zahlen und auf ein Heim verweisen. Stattdessen muss sie mit dem Versicherten eine "Zielvereinbarung" zur Nachbesserung abschließen. Kritiker sagen: Wer entscheidet, was berechtigte Wünsche sind? Und wer übernimmt die Nachbesserungen?
Aus Sicht von Holger Kiesel, den Behindertenbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung, mischen sich Kostenträger unzulässig in eine private Entscheidung ein. Er verweist auf die UN-Behindertenrechtskonvention, in der festgelegt ist, dass Menschen mit Behinderung ihren Wohn- und Aufenthaltsort selbst wählen können.
Andere, etwa Armin Nentwig vom Bundesverband "Schädel-Hirnpatienten in Not", halten die Überprüfungen für vertretbar: "Wenn die Gemeinschaft so viel Geld im Jahr für einen Patienten bezahlt, muss er es sich gefallen lassen, dass jemand zur Kontrolle kommt."
Gemischte ReaktionenBei den Betroffenen sind die Meinungen geteilt. Die Krankenschwester Yvonne Falckner aus Berlin hält IPReG für ein "Bürokratiemonster". Für Christian Kiermeier, Blogger aus München, ist manches im Gesetz positiv: "Die Gefahr, dass Menschen in Heime verfrachtet werden, scheint ja gebannt." Trotzdem sei man weit entfernt von einer zufriedenstellenden Lösung. Die Menschen müssten sich mit dem Medizinischen Dienst herumschlagen. "Viele haben Angst, dass er ihnen aus Kleinigkeiten einen Fallstrick drehen wird, der sie aus der häuslichen Umgebung ins nächstbeste Heim abschieben wird."
Intensivpflege: Ein teures GeschäftIntensivpflege außerhalb der Klinik ist teuer - und braucht viel Personal. Im Jahr 2018 hatten die gesetzlichen Krankenkassen Leistungsausgaben von etwa 1,9 Milliarden Euro. Vor allem die häusliche 1:1-Versorgung geht ins Geld. In Pflege-WGs kommen auf eine Pflegekraft etwa drei Patienten. "Wenn wir in die stationäre Versorgung gehen, haben wir häufig einen Schlüssel von 1:6 oder 1:8, das reduziert auch die Kosten", sagt Frank Gerhard von der Deutschen Interdisziplinären Gesellschaft für außerklinische Beatmung. Auch die Bundesregierung rechnet mit Einsparungen in Millionenhöhe.
Wer sich für die Intensivpflege im Heim entscheidet, soll durch das Gesetz finanziell entlastet werden. Momentan haben Betroffene hohe Eigenanteile zu tragen, etwa 2.000 bis 3.000 Euro im Monat. Dass es im Heim weniger Pflegekräfte braucht, könnte auch gegen den Pflegenotstand helfen, heißt es aus dem Gesundheitsministerium. Damit verbunden ist wohl die Hoffnung, dass Pflegekräfte von der Pflege-WG ins Heim wechseln. Sven Liebscher vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe glaubt: Die Rechnung wird nicht aufgehen. "Die Pflegekräfte, die ich kenne, sagen: Wir haben uns bewusst für diese Art der Versorgung entschieden, wo wir Zeit für den Patienten haben." Anstatt ins Pflegeheim zu wechseln, würden manche lieber ganz aus dem Beruf aussteigen.