Kinderroman für Erwachsene Hier riecht es nicht nach Bullerbü
Zwischen Enid Blyton, "Herr der Fliegen" und Schauermärchen: In dem preisverdächtigen Roman "Power" zeigt Verena Güntner, wie weit sich die Menschen entfernt haben von der Natur - und von ihren Kindern.
Elisa von Hof
Wenn Kerze ein Versprechen gibt, hält sie es. Das weiß sie. Das weiß ihre Mutter. Das weiß das ganze Dorf. Deswegen ist auch völlig klar, wer den verschwundenen Hund der Hitschke wieder auftreiben muss. Kerze schafft halt alles. "Weil sie Kerze ist. Ein Licht in dieser rabenschwarzen Welt." Den Namen hat sie sich selbst gegeben, klar, weil sie denkt, "dass man so etwas keinem anderen überlassen sollte, schon gar nicht den Eltern, denen am allerwenigsten". Also leuchtet sich Kerze fortan selbst den Weg. Durch ihr dunkles Kinderzimmer, den Wald, die wochenlange Suche nach dem verlorenen Hund, Power.
So hat Verena Güntner auch ihren Roman genannt, "Power", der nun - zu Recht - für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. Dabei passt der Name so viel besser zu dem Mädchen, das die Geschichte energisch antreibt, als zu dem kleinen Hund, der irgendwann - das ist kein großer Spoiler, man erfährt es zu Beginn - gefunden wird, tot und von Maden zerfressen. Kerze hält halt ihre Versprechen. Egal, was es sie und die anderen kostet. Viel, dieses Mal.
Denn natürlich geht es in "Power" nicht um die Suche nach einem Hund. Also schon auch. Aber Verena Güntner, die mit "Es bringen" schon einen Roman über Jugendliche geliefert hat, der kein Jugendroman ist, nutzt die Suche nach dem Tier, um mit vielen Missverständnissen aufzuräumen: Dass sich die Menschen auf dem Land verstehen und zusammenhalten, und die so viel besprochene Spaltung der Gesellschaft, wenn es sie dort überhaupt gibt, spätestens in der Dorfkneipe mit Pils aufgefüllt wird etwa. Luis, die kühne Hauptfigur ihres mehrfach prämierten Debüts, ließ Güntner in der Hochhaussiedlung ziemlich schonungslos mit seinen Ängsten ringen. In "Power" zeigt sie, dass es auf dem Dorf eben auch nicht viel idyllischer zugeht.
Klug beobachtet und sensibel erzählt, beschreibt Güntner die Kindheit in einem "völlig ausgesaugten" Dörfchen, wo statt Schlager Rechtsrock aus den letzten Traktorenfenstern dröhnt. Hier riecht es nicht nach Bullerbü. Sondern nach Desinteresse, Rindenmulch und Einsamkeit. Gegen den Zerfall ihres Zuhauses kämpft bloß Kerze an. "Sie wird tun, was notwendig ist, damit am Ende wieder alles wird, wie es immer war." Wer etwas älter als elf ist, weiß, dass das selten gelingt. Kerze, die Güntner wunderbar frei von klischeehaften Genderzuschreibungen hält, aber vielleicht doch.
Diese Systemsprengerin hält der Welt nicht die Wange, sondern die ausgestreckte Faust hin. Das ist so mutig wie angsteinflößend, sogar für ihre alleinerziehende Mutter, der Kerze häufig Ratschläge erteilt: "Das Leben ist eine sehr ernste Sache, und ich hoffe, dass du das im Blick hast, Mama", zum Beispiel.
Ein bisschen aus Spaß, aber vermutlich auch aus Furcht schließen sich immer mehr Kinder Kerzes Suche an. Zuerst sind es bloß ihre Schulkameraden, dann werden es mehr und mehr, bis schließlich alle Kinder des Dorfes mitmachen. Weil Power vermutlich in den Wald gelaufen ist, zieht es die Kinder dorthin. Um den Hund besser zu verstehen, beginnen sie, auf allen Vieren zu laufen und zu bellen. Vom Boden zu essen und sich nicht mehr zu waschen. Unter Kerzes Kommando verschwinden sie schließlich ganz im Dickicht.
Und was tun ihre Eltern? Nichts eigentlich. Klar, es wird hier und da geweint und am Waldesrand geschrien. Aber hinein traut man sich nicht. Verena Güntner hat in schmerzlich treffende Worte gehüllt, wie weit sich die Menschen entfernt haben von der Natur, die sie umgibt, und den Kindern, die sie nicht mehr verstehen - und vielleicht noch nie verstanden haben.
Ihr Freiwild-Phlegma verwandelt sich schließlich in Wut: Die Dorfbewohner setzen der Hitschke zu, machen die zum Sündenbock, die Kerze mit der Suche nach ihrem Hund beauftragt hatte. Wie schnell sich Menschen radikalisieren können, das sieht man spätestens dann, wenn die Fensterscheiben der einsamen Frau zertrümmert vor ihrer Schrankwand liegen.
Was als Detektivgeschichte eines neuen Emil begann, entpuppt sich zusehends als kulturpessimistisches Schauermärchen. Nicht bloß, weil die Mikrogesellschaft dieses von Landflucht ausgezehrten Dorfes nichts mehr begreift und auch keine Lust hat, das zu ändern. Sondern, weil es um die Makrogesellschaft auch nicht besser steht. Immer wieder lässt Verena Güntner - wahnsinnig zynisch und traurig zugleich - unglückliche Städter in den Wald marschieren, die den Sinn ihres Daseins so verzweifelt suchen, dass sie ihn bei bellenden Kindern vermuten.
Auch deren Abenteuer kommt weniger nach Enid Blyton als nach William Goldings "Herr der Fliegen". Kerzes Kommando ist nichts für Zartbesaitete. Wer nicht folgt, muss auch mal Tannenzapfen hinunterwürgen. Kerze indes kämpft mit Geistern. Die sie verfolgen, auslachen, bedrängen. Wie bei Ebenezer Scrooge erscheinen sie am liebsten nachts. Bloß kann die Elfjährige noch nicht so viele Weihnachten versaut haben, dass es Grund für ihren Besuch gibt. Vielleicht, denkt man, sind es die Geister der Erwachsenenwelt, die viel zu früh in Kinderzimmer drängen. Und viel zu selten fortgejagt werden.