Nordirland-Roman "Milchmann" Wer Aufmerksamkeit erregt, lebt gefährlich
Der Nordirlandkonflikt zerriss Belfast. Anna Burns schildert, wie in dieser Atmosphäre sexualisierte Gewalt besonders perfide wirkte. Ihr großartiger Roman "Milchmann" wurde mit dem Booker-Preis ausgezeichnet.
Elisa von Hof
Als der Milchmann in ihr Leben tritt, ändert sich dieses ziemlich radikal. Nicht zum Positiven, denn das ist keine Liebesgeschichte: Er frisst es einfach auf.
Zunächst ist es bloß der Weg zur Arbeit, den sie wegen ihm ändert. Dann ist es das Ausgehen, das sie lässt. Auch ihre Gewohnheiten, ihre Hobbies, ihre Beziehung beendet sie. Und schließlich lässt sie ihr Gesicht zu Stein werden, undurchdringlich, regungslos. Für ihn und den Rest ihrer Welt. In der gibt es für Stalking, sexuelle Belästigung und Nötigung keine Worte. Wird einer Frau nachgestellt, ist sie selbst dran schuld.
So ist es auch bei der namenlosen Protagonistin in Anna Burns "Milchmann", mit dem die Autorin 2018 den Man-Booker-Preis gewann. Weil sie, die man nur als "Mittelschwester" einer großen Familie kennen lernt, im Gehen liest, erregt sie in dieser Gesellschaft Aufmerksamkeit - auch die des titelstiftenden Milchmanns. "Das ist verstörend. Das ist abartig. Das ist eine optische Täuschung", sagt einmal eine Freundin darüber. Im Gehen lesen, das macht sonst nämlich keiner. Und alles, was kein anderer tut, bedeutet im Belfast der Siebzigerjahre nichts Gutes.
In der Gesellschaft mitten im Nordirland-Konflikt gibt es nur Schwarz und Weiß, Licht und Schatten, die Verweigerer und die Befürworter der Staatsmacht. Zur falschen Seite gezählt zu werden, kann tödlich enden. Jede Familie betrauert mehrere getötete Kinder, von Autobomben zerfetzte Schwiegersöhne und verbannte Töchter. Auch die der Erzählerin. Vermutlich zieht sie sich deshalb in die Romane des 19. Jahrhunderts zurück. Aber selbst für Eskapismus ist hier kein Platz. Nicht mal, wenn es um "Jane Eyre" geht - oder um einen Sonnenuntergang, in dessen Betrachtung man sich rettet.
Der Himmel nämlich ist blau. Immer. Ein roter, schwarzer, violetter Himmel? Unmöglich. Als die Erzählerin ihren ersten Sonnenuntergang betrachtet, stellt sie fest, dass sie sich geirrt hat. "Ich schaute in den Himmel und mir wurde klar, dass da draußen überhaupt kein Blau war. Zum ersten Mal sah ich Farben." Panik krabbelt ihren Rücken hinunter. Farben bedeuten Wahl, Schönheit und Licht, wo sonst nur Ödnis herrscht.
Burns, die erste Nordirin, die den bedeutendsten Preis für englischsprachige Literatur gewann, schildert diesen Moment mit großer erzählerischer Kraft. Der Himmel sprengt diese bipolare Welt, in der sich die Identität der einen Seite nur durch die Alterität zur anderen speist, wo kein Platz ist für Individualität, Kunst - und auch nicht für Freiheit.
Vermutlich verzichtet die Erzählerin deshalb generell auf Namen. Sie verrieten in dieser Welt zu viel, schafften Menschlichkeit, wo es keine gibt. Die Schwestern werden zu Nummern, die Schwager auch, und der Mann, mit dem die Protagonistin seit einiger Zeit schläft, wird zu "Vielleicht-Freund". Zwar erleichtert das die Lektüre nicht unbedingt, schließlich sind Namen der rote Faden jeder Geschichte, aber der erzählerische Kniff wirkt: Als die untergehende Sonne den Himmel färbt, verwandeln sich die anderen plötzlich in Personen, in Siobhan, Willard und Russell. Man atmet auf, der Roman wiegt gleich viel weniger. Aber nur für kurze Zeit.
Denn an der nächsten Straßenecke lauert der Milchmann in seinem weißen Lieferwagen. Er verfolgt die Ich-Erzählerin, weiß alles über ihr Leben, ihre Familie, ihren "Vielleicht-Freund". Aber die 18-Jährige weiß nicht, was genau "unerwünschte Annäherung" ist, so nennt sie es, denn der Milchmann verschleiert seine Absichten mit subtilen Drohungen. Und sie kann sich auch nicht wehren. Denn in dieser "permanent alarmbereiten Gesellschaft" gilt: "Wenn keine körperliche Gewalt ausgeübt und man nicht direkt verbal beleidigt worden war und keiner in der Nähe blöd guckte, dann war auch nichts passiert."
Frauen kennen diese traurige Wahrheit, 40 Jahre vor #MeToo und leider auch noch danach. Burns zeigt in diesem Roman, was mit den Opfern sexualisierter Gewalt passiert, wenn eine Gesellschaft nicht bloß wegschaut, sondern die Opfer für die Gewalt verantwortlich macht, die ihnen widerfährt. Und wie ausgeliefert Frauen Tätern in totalitaristischen Gesellschaften sind, wenn die so viel Macht haben wie der Guerillakämpfer Milchmann.
"Meine Gefühle äußerten sich also erst nicht mehr. Dann hörten sie ganz auf zu existieren. (...) Mein Innenleben, so schien es, war einfach weg."
Der Erzählerin raubt es die Worte. "Wie konnte ich Opfer von etwas sein, das es gar nicht gab?", fragt sie. Als sie einmal den Versuch unternimmt, ihrer Mutter doch davon zu berichten, wehrt diese ab. Sie sei es doch, die sich an den Paramilitär heran schmeiße. Die Erzählerin schweigt fortan und versucht, die Gerüchte nicht zu nähren. Es ist ihr der einzige, traurige Ausweg aus diesem Albtraum.
Schließlich zieht sie sich ganz in sich selbst zurück. "Meine Gefühle äußerten sich also erst nicht mehr. Dann hörten sie ganz auf zu existieren. (...) Mein Innenleben, so schien es, war einfach weg."
Warum die Opfer sexualisierter Gewalt manchmal darüber schweigen, weshalb Erzählen unendliche Kraft kostet und wie sich Angst und Verzweiflung in Herz und Hirn fressen wie Batteriesäure, beschreibt Burns in diesem Werk ohne Pathos und mit so einfacher Sprache, dass das Lesen schmerzt. Auszuhalten ist das bloß, weil man der Protagonistin etwas voraus hat: Der Milchmann wird sterben, man erfährt es gleich auf der ersten Seite. Und die Erzählerin? Findet ihre Stimme wieder. Sie erzählt uns ja davon.