Shermin Langhoff , 49 kam mit neun Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Nach einer Lehre als Verlagskauffrau und einem Volontariat beim NDR arbeitete sie in der Filmproduktion. 2008 gründete Langhoff das Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin, seit 2013 ist sie Intendantin des Maxim-Gorki Theaters. 2014 und 2016 wählten Kritiker in der Umfrage von "theater heute" das Gorki zum Theater des Jahres.
Elisa von Hof
SPIEGEL ONLINE: Frau Langhoff, von den fünf großen Theatern in Berlin wird nur eines von einer Frau geleitet - von Ihnen. Steht es so schlecht um Gleichberechtigung im Theater?
Langhoff: Das ist eine Unglaublichkeit, klar. Im Theater sind wir bei alten hierarchischen Strukturen stehen geblieben, im 19. Jahrhundert. Wir haben zwar 70 Prozent Zuschauerinnen, aber im Theater arbeiten über 70 Prozent Männer, vor allem in den leitenden Funktionen wie Regie.
SPIEGEL ONLINE: Die Münchner Kammerspiele soll nun mit Barbara Mundel eine Frau leiten. Haben Sie den Eindruck, in der Branche ändert sich etwas?
Langhoff: Na ja. Ich habe zwar in den vergangenen Monaten in Deutschland so viele Besetzungen mit Intendantinnen erlebt wie noch nie. Dennoch ist die Berliner Realität eine andere: Von den fünf großen Theaterhäusern in der Stadt wird das kleinste und jenes mit dem kleinsten Budget von einer Frau geleitet. Insofern wird die Besetzung der Intendanz der Volksbühne spannend.
SPIEGEL ONLINE: Die Volksbühne müsste also mal eine Frau übernehmen.
Langhoff: Ich würde mich darüber sehr freuen.
SPIEGEL ONLINE: Am Badischen Staatstheater Karlsruhe dürfen in dieser Spielzeit nur Frauen inszenieren. Kommt so etwas für das Maxim-Gorki Theater auch in Frage?
Langhoff: Nein. Ich glaube, unser Ansatz ist schon weiter. Denn die Frage nach völliger Gleichberechtigung stellt sich in unserem diversen Ensemble noch intensiver. Ich hänge nicht dem alten Feminismus nach, der Herkunft und Klasse vernachlässigt.
SPIEGEL ONLINE: Ihrer Ansicht nach darf es also nicht darum gehen, Männer auszuschließen?
Langhoff: Genau. Es geht jetzt darum, dass wir das das Versprechen des Grundgesetzes umsetzen, das vor 70 Jahren entworfen wurde: also Gleichberechtigung für jeden. Für Männer, Frauen und alle dazwischen. Ansonsten halte ich es da wie Tina Turner: "We don't need another hero."
SPIEGEL ONLINE: Auch nicht einen, der die Verhältnisse ändert?
Langhoff: Wir brauchen auf jeden Fall keine toxische Männlichkeit. Die muss bekämpft werden. Wir können nicht damit zufrieden sein, dass einige Männer, die rigoros Grenzen überschritten haben, von ihren Machtpositionen geflogen sind. Überall haben nach wie vor Männer Deutungshoheit. Seit der Aufklärung hat sich das Konzept des männlichen Genius etabliert - ich glaube aber nicht daran.
SPIEGEL ONLINE: Woran glauben Sie denn?
Langhoff: An eine Schwarmintelligenz. Und an einen Feminismus, der emanzipatorisch und intersektional denkt. Das heißt: Wir müssen mehrfache Diskriminierungen bekämpfen, etwa den perfiden Sexismus, der über die Hautfarbe läuft. Und ich glaube, dass es nach 3000 Jahren an der Zeit ist, dass wir Frauen die Macht ergreifen. Aber wir müssen diese Macht nutzen, um die Gesellschaft für alle zu öffnen.
SPIEGEL ONLINE: Hat die #Metoo-Debatte etwas gebracht?
Langhoff: Ja. Unternehmen haben belastete Männer entlassen und Produktionsfirmen haben sie aus ihren Filmen geschnitten. Und #MeToo hat auch eine Debatte über diskriminierende Machtstrukturen angestoßen. In dieser Zeit, in der wir von dem geopolitischen Macht-Dreieck aus Trump, Putin und Jinping regiert und agitiert werden, war das mehr als notwendig. Diese Männer stehen eher für einen Backlash in alte Zeiten als für ein Vorankommen. #MeToo hat die Sensibilität dafür geschärft.
SPIEGEL ONLINE: Sensibilität ist ja gut - aber bewirkt doch nur dann etwas, wenn sie in Handeln übersetzt wird.
Langhoff: Wir werden keine Revolution über Nacht erleben, das wird eher ein Marathon. Strukturen lassen sich eben nicht so einfach verändern. Man kann ja nicht alle Männer entlassen, um Frauen einzustellen. Die gewonnene Sensibilität für das Thema können wir aber nutzen, um die Politik aufzufordern, Förderungen für Frauen bereit zu halten. Damit in ein paar Jahrzehnten nicht mehr nur 20 Prozent der deutschen Staatstheater von Frauen geleitet werden.