SPIEGEL ONLINE: Frau Connolly, nach dem kräftezehrendem Hin und Her der vergangenen Monate schütteln viele Deutsche bloß noch den Kopf, wenn es um den Brexit geht. Sie verstehen nicht mehr, was die Briten wollen. Wissen Sie's?
Kate Connolly: Je näher der 29. März kommt, also das potenzielle Austrittsdatum aus der EU, desto panikartiger werden die Leute. Sie hamstern zum Beispiel Lebensmittel. Gleichzeitig habe ich den Verdacht, dass manche Briten dieses Drama genießen. Denn es ist ein Zusammenhalt entstanden, den man lange nicht gespürt hat.
SPIEGEL ONLINE: Man vermutet eigentlich das Gegenteil zwischen den Brexit-Lagern.
Connolly: Ja, aber als May die Abstimmung über den Vertrag mit der EU verloren hat, haben sich beide Seiten gefreut. Vor dem Parlament herrschte Karnevalsstimmung. Das fand ich pervers; es ist fast ein "Dunkirk-Spirit", wie damals im Zweiten Weltkrieg.
SPIEGEL ONLINE: Sie meinen damit den Moment, als britische Soldaten an der französischen Küste von Nazis eingekesselt wurden und britische Zivilisten sie in Booten auf die Insel retteten.
Connolly: Genau, als Churchill gegen jede Vernunft sagte: Wir schaffen das zusammen, wir holen euch. Das war so irrational. Es passt zur Gegenwart.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie das Ergebnis des ersten Referendums über Monate hinweg schockiert hat. Wie fühlen Sie sich heute damit?
Connolly: Sehr traurig. Wenn ich mich jetzt irgendwo vorstelle, sage ich: "Tut mir leid, ich komme aus Großbritannien." Und ich schäme mich ein bisschen, wenn meine Tochter mit ihrem Union-Jack-Roller fährt. Bei meinen letzten Besuchen Zuhause habe ich allerdings gemerkt, wie sehr das Thema in Alltagsgesprächen unterdrückt wird. Denn es hat ein großes Streitpotential, viele Ehen sind daran zugrunde gegangen.
SPIEGEL ONLINE: Auch Ihre Eltern haben unterschiedlich abgestimmt, schreiben Sie: Ihre Mutter dafür, Ihr Vater dagegen.
Connolly: Mittlerweile ist mein Vater aber auch dafür, vielleicht wegen der Harmonie in der Ehe. Nach 50 Jahren will man ja schließlich nicht wegen des Brexits auseinandergehen. Auf einer Familienfeier habe ich mal versucht, darüber zu reden. Aber mein Onkel hat mich davon abgehalten. Zu schweigen, das ist sehr britisch.
SPIEGEL ONLINE: Wie ist das innerhalb der " Guardian"-Redaktion, für die Sie arbeiten? Auf den Titelseiten hat sich die Zeitung gegen den Brexit positioniert.
Connolly: Da gibt es auch unterschiedliche Meinungen. Es gibt natürlich sehr viele Brexit-Gegner, jedoch auch eine kleine, aber harte linke Seite, die die EU verlassen will.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie in den vergangenen Monaten neue Seiten an Ihrer Heimat entdeckt?
Connolly: Ja, die Engstirnigkeit vieler Briten. Und mir ist nochmal bewusst geworden, dass wir eine Insel sind. Früher hieß das für mich: abenteuerlicher sein, weil man ja immer weg muss. Jetzt bedeutet der Begriff "Insulaner" für mich aber, in sich zu gehen, sich zu isolieren.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben wegen des Brexits die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Was vermissen Sie?
Connolly: Vieles. Familie und Freunde natürlich, aber auch das großartige Theater und den Humor. Der ist im Alltag in Großbritannien sehr wichtig, er ist unser Ventil: Wenn zum Beispiel die U-Bahn nicht fährt, reagieren wir mit schwarzem Humor und lachen. Sogar über den Brexit, der ja auch bloß ein Ausdruck unserer Identitätskrise ist.
SPIEGEL ONLINE: Woher kommt die?
Connolly: Man kann sie zurückführen auf die Zeit, als wir ein großes Empire waren und es langsam zerbröckelte, also Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Das hat man nie verwunden.
SPIEGEL ONLINE: Wie meinen Sie das?
Connolly: Deutschland und Großbritannien sehen ihre Gegenwart durch das Prisma der Vergangenheit. Für die Deutschen heißt das, dass sie ihre NS-Vergangenheit vergessen wollen. Für sie ist die EU ein Fluchtort, der sie vor sich selbst rettet. Die Briten wiederum wollen zurück zum glorreichen Empire und damit zurück in die Vergangenheit. Zuletzt hat man diese Identitätskrise sehr deutlich während des schottischen Unabhängigkeitsreferendums gespürt, das scheiterte.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass es zu einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum kommt?
Connolly: Ja. Es wird dauern, weil man sich dieses Mal sicher sein müsste, dass es klappt. Und: Die Nordiren waren ja auch gegen den Brexit, die Londoner ebenfalls und in Wales war es knapp.
SPIEGEL ONLINE: Das Interesse an der britischen Kultur allerdings, zumindest in Form von Serien wie "The Crown" oder "Sherlock", scheint in Deutschland ungebrochen.
Connolly: Merkwürdigerweise ist diese Attraktivität nach wie vor intakt, die Deutschen scheinen genauso verliebt wie zuvor. Ich bin gespannt, welche Geschichte der erste " James Bond" nach dem Brexit erzählen wird. Vielleicht verliert 007 all seine europäischen Partner. Oder er wird wegen #MeToo in Bedrängnis geraten.