Rote Rauchschwaden ziehen über Tausende Köpfe hinweg, Sirenen drängen sich zwischen die Strophen, ein blondes Mädchen beklebt ein Bundeswehrplakat: Wo eine Soldatin auf einem Panzer zuvor für "Tech" warb, prangt nun "FCK NZS", also "Fuck Nazis". Den Slogan kann man an diesem Montagabend in Chemnitz hundertfach sehen, auf T-Shirts, Aufklebern und Straßenschildern. Menschen schreien ihn sich gegenseitig entgegen - während auf der Bühne Musiker wie die Toten Hosen, Kraftklub, Marteria und Casper vier Stunden lang gegen "Faschismus, Homophobie, Rassismus und die verrückte AfD" ansingen, wie Kraftklub-Frontmann Felix Brummer ins Mikrofon ruft.
Mit ihrem kostenlosen Konzert wollten die Musiker mehr Menschen auf die Straßen der sächsischen Stadt locken als die Pegida-Anhänger, Rassisten und Hetzer in der vergangenen Woche. Und das klappte: Nach Angaben der Stadt kamen etwa 65.000 Menschen zum Protestkonzert in die Stadt. Laut Polizei blieb es friedlich. Geplante Gegenveranstaltungen des ausländer- und islamfeindlichen Bündnisses Thügida und der rechtspopulistischen Bewegung Pro Chemnitz waren von der Stadt untersagt worden.
Video vom Chemnitzer Konzert: "Es ist wichtig, dass man sich nicht allein fühlt"
Viele Besucher des Konzerts sind von weit her angereist. Sie wollten mit ihrer Teilnahme zeigen, dass man nicht zusieht, wenn der rechte Mob die Straßen erobert. Dass ein Konzert nicht genug ist, um sich dauerhaft gegen Rassismus einzusetzen, das wissen alle. Aber es könne ein Anfang sein, werden die Musiker nicht müde zu betonen. "Man muss nur mal den Arsch hoch kriegen", wie Jan "Monchi" Gorkow sagt.
Er ist Sänger der Rostocker Punkband Feine Sahne Fischfilet - die 2011 im Verfassungsschutzbericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern als linksextremistisch aufgeführt wurde. Der Auftritt der Band in Chemnitz hatte deshalb für Diskussionen gesorgt, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wurde dafür kritisiert, die Einladung zu dem Konzert in den sozialen Medien geteilt zu haben. "Wenn es die grundsätzliche Einstellung beim Verfassungsschutz sein sollte, jemanden wie Monchi zu beobachten, muss man den Laden auflösen", sagte Sänger Campino. Und K.I.Z.-Sänger Maxim Drüner: "Manche sagen, hier würden linksradikale Verfassungsfeinde spielen. Aber wo ist jetzt der Diss? Ich peile es nicht mal."
Von linker Gewalt ist an diesem Abend jedoch nichts zu spüren. Je dunkler es wird, desto mehr Menschen strömen heran. Eine Mutter stillt ihr Baby in der Menge, andere holen selbst geschmierte Stullen und Äpfel hervor, einige tragen ihre Kinder auf den Schultern oder haben gleich die ganze Familie dabei.
Auch Günter ist gekommen, "außen 69 Jahre alt, innen jung geblieben", wie er sagt. Er kommt aus Chemnitz oder Karl-Marx-Stadt, wie die Stadt die meiste Zeit seines Lebens hieß. Er erinnert sich, wofür er schon auf der Straße war - oder viel eher wogegen: Vietnam, die Mauer, Hartz IV. Das, was in den vergangenen Tagen hier passiert sei, das sei zum Heulen, sagt er. Aber eine Messerstecherei auf einem Stadtfest, das auch.
Auch Petra, 60, sagt, sie sei nicht wegen der Musik hier, sondern wegen der Botschaft. "Aus Hass wächst nur Hass", sagt die Chemnitzerin und hüllt sich fester in ihre Regenbogenfahne.
"Der Beweis, dass die Welt doch glücklich, bunt und wunderbar sein kann"
Die meisten Konzertbesucher sind an diesem Montagabend eher unter 35 Jahre alt. Gut, dass allerorts noch Semesterferien sind und man die Montage also auch mal in anderen Städten, auf anderen Straßen, vor anderen Bühnen verbringen kann. Gut wohl auch, dass man das neue Album von Marteria und Casper, das am vergangenen Freitag erschienen ist, bis zu diesem Abend noch nicht viel live hören konnte. Und sich das ziemlich lohnt, wie die beiden Rapper zeigen. "Geht in Deckung, ich hab zu viel Energie", rappen sie sich in "Supernova" entgegen, als besängen sie diesen Abend, "bevor die Sonne aufgeht, lass mich schein', heller als der Mond, lass mich nicht allein".
Die beiden Musiker singen den jubelnden Zuschauern Arm in Arm entgegen, während bengalische Feuer roten Rauch um die Bühne jagen. Manchmal sähe die Welt so düster aus, sagt Casper, der eigentlich Benjamin Griffey heißt. "Aber dass wir heute alle hier sind, ist der Beweis, dass die Welt doch glücklich, bunt und wunderbar sein kann."
Deswegen ist auch René hier, die Hand seiner Tochter in der einen, ein Plakat mit der Aufschrift "Ein Herz für alle" in der anderen Hand. Der Chemnitzer war auch am Samstag schon hier, um gegen Rassismus zu protestieren, wie er sagt. Denn was in seiner Heimat geschehen sei, das ginge einfach nicht, die Hitlergrüße, die Jagd auf Migranten. Deswegen ist er heute wieder da. Bloß mit Verstärkung.
Wie deutsche Musik politisch klingen kann, ohne den Zeigefinger über der Menge zu erheben oder in Postkartenkitsch abzudriften, das zeigt sich hier über alle Genres hinweg: poppig von Kraftklub ("Wenn du mich küsst, ist die Welt ein bisschen weniger scheiße"), ironisch von K.I.Z. ("Ich sprenge eure Demo und es regnet Hackepeter") oder klassisch-verrockt von den Toten Hosen ("Der Sascha, der ist arbeitslos/ Was macht er ohne Arbeit bloß/ Er schneidet sich die Haare ab /Und pinkelt auf ein Judengrab").
"Wir sind gerührt und begeistert von diesem Abend", schreit Tote-Hosen-Frontmann Campino von der Bühne. "Und wenn das hier gewaltfrei bleibt, dann haben wir 5:0 gewonnen", ruft er, beugt sich nach vorn, als wolle er die Menge noch näher zu sich heran holen, und winkt Rodrigo Rod Gonzales von den Ärzten nach vorn. Die Zuschauer kreischen. Eigentlich sind die Fanlager der beiden Bands ziemlich gespalten: Entweder man ist Ärzte-Fan oder einer der Hosen. Heute gilt das nicht. Zusammen singen sie den Ärzte-Hit "Schrei nach Liebe", also von Faschisten, deren einziger Halt ihre Springerstiefel sind. Das Publikum in Chemnitz ist ein einziger, riesengroßer Chor. Am Ende grölt er "You'll Never Walk Alone". Und an diesem Abend, da stimmt das.