Saisoneröffnung
Am Sonntag hatte die Volksbühne alle Berliner zum Tanz auf das Vorfeld des ehemaligen Flughafens Tempelhof geladen.
Elisa von Hof
Jetzt geht es endlich los. Am Sonntag hat die Volksbühne unter dem neuen Intendanten Chris Dercon ihre Saison eröffnet: Auf dem Vorfeld des ehemaligen Flughafens Tempelhof sollte "ganz Berlin tanzen". Der Eintritt war frei, das Programm zehn Stunden lang, über 150 Künstler daran beteiligt. Dercon hatte in der vergangenen Zeit viel Kritik einstecken müssen. Unter seiner Leitung verkomme die Volksbühne zu einer "Eventbude" ohne Ensemble, aber mit viel Festivalgefühl hatte es geheißen. Das Tanzfest am Sonntag schmeckt deswegen nach Bewährungsprobe. Kann Dercon die Berliner doch noch neugierig machen auf sein Volksbühnenkonzept? Ein Erfahrungsbericht.
12.15 Uhr: Ankunft Tempelhof
Einige Menschen kleckern aus dem U-Bahnhof Platz der Luftbrücke, der Flughafenvorplatz gähnt noch leer in der Sonne. Vor dem Eingang gibt's erstmal das Programm vom HAU in die Hand. HAU? Ja, genau, von der Berliner Bühne, der Dercon einige Choreographen abgeworben hatte. Heute wird also doppelt probiert, das tanzinteressierte Publikum für sich zu gewinnen.
12.35 Uhr: Pirouetten
Heute sollen ja alle Berliner tanzen. Das soll Choreograph Boris Charmatz in die Hand nehmen. Der ist ja Aushängeschild von Dercons neuer Bühne, soll den Berlinern Tanz schmackhaft machen und hat auch diesen Tag geplant. Nun steht er auf dem Vorfeld, ein Headset am Kopf, und weist die Besucher im "Warm-Up" an. Zuerst laufen, okay, klappt noch, dann springen, eine Pirouette drehen, es kommen immer mehr Bewegungen dazu. Man stolpert und lacht, das sollen heute doch lieber andere machen. Charmatz zum Beispiel. Der tanzt in Jeans und Shirt. Man gibt sich also volksnah. Er schaut zu denen, die nicht mitmachen. "Die haben auch Spaß", schnauft er ins Mikro, "die überlegen die ganze Zeit bloß, was sie mitmachen könnten und was nicht."
13.10 Uhr: Verschnaufpause
"Wat? Den janzen Tach wird hier jetanzt? Dit is ja wat", unterhalten sich zwei Berliner, die Fahrräder über das Feld schiebend. Man hatte sich hier eigentlich zum Biken getroffen. Von dem Streit um Castorfs Nachfolge hat man nichts mitbekommen. "Wat? Volksbühne? Hier uffm Feld?"
13.17 Uhr: Ballett in Jeans
Immer mehr Menschen fließen aus dem Flughafengebäude auf den Platz, da tanzen jetzt die Ballerinen der Staatlichen Ballettschule, auch in Jeans und Shirt statt in Tutu und Spitzenschuhen. Füße scharren über den Boden, ziehen Kreise. 37 Tänzerinnen lassen ihre Bewegungen zerfließen. Und man ist so nah dran, dass man die feinen Härchen auf ihren Armen in der Sonne schimmern sehen kann.
13.52 Uhr: Hip-Hop!
Das Feld ist so groß, so offen, vieles verläuft sich. Die Ballerinen wurden jetzt von Hip-Hop-Kids der "Flying Steps" abgelöst. Die drehen sich auf ihren Köpfen, strecken die Glieder weit von sich, springen in den Handstand. Wir knien auf dem Boden, damit mehr Zuschauer die Kids sehen können. Der Beton bohrt sich in die Kniescheiben. Bühnen, Podeste, oder wenigstens ein paar Klappstühle werden vermisst. Immer mehr Rummel zieht die Bratwurstbude weit hinten an.
14.28 Uhr: Zeit für erste Resümees
"Können wir jetzt gehen, Mama?", fragt ein Vierjähriger und guckt gelangweilt in den Himmel, da steigen Drachen. In der Mitte des Feldes tanzen Kinder, mal wieder. Klar, das ist immer süß. Aber der Bonus verpufft langsam. "Wir wollten dem heute so positiv begegnen, aber das ist wirklich nicht gut", erklärt jemand. Man sei Fan der Castorf-Bühne, habe den Wechsel argwöhnisch beobachtet. Und Charmatz' Tanztag, "Fous de danse", verrückt nach Tanz also, der sei eher Volksfest denn Spielzeiteröffnung. Einige tragen T-Shirts der "alten" Volksbühne, man bäumt sich ein letztes Mal auf, zeigt sich solidarisch mit der Castorf-Ära.
14.47 Uhr: Fernab der Heimat
Beliebig wirke das alles hier, sagt der Nächste, die silbernen Haare glitzern in der Sonne und guckt auf den Tänzer Mithkal Alzghair. Der tanzt gerade in einer Menschentraube, zieht sich dabei aus. Die Hose um die Knöchel windet er sich auf dem Betonboden, kriecht wie eine Schlange, bleibt wie verwundet liegen, das Gesicht auf den Boden gepresst. Alzghair ist Syrer. Sein Tanz erinnert an seinen Kampf um die eigene Zukunft, fernab der Heimat. Man fühlt mit.
15.15 Uhr: "Ein Couscous-Konzept"
"Das war der Hammer", unterhält sich ein Paar, ein Bier vor sich. Das sei doch wirklich ein toller Beginn der Saison. Man ist begeistert. "Das ist ein Event", nickt man. Was also Kritiker oft bemängeln an Dercons Konzept, das gefällt hier. "Das ist ein Couscous-Konzept", sagt der Nächste. Überall kleine Häppchen, die sich vermischen: Folklore, Ballett, Hip-Hop. Und er hat Recht: Das ist zu viel. Zu viel Volksfest, zu wenig Konzept. Man entkommt der Reizüberflutung nur an der Bratwurstbude.
16.12 Uhr: Der "Soul Train" fährt ein
Performance folgt auf Performance. Nach türkischem Folklore-Tanz mit Hip-Hop-Elementen, Hände werden da in die Wolken gesteckt und archaisch in der Hocke getanzt, fährt jetzt der "Soul Train" ein, alle sollen den "Booty" bewegen. Ja, Partizipation ist hier das Konzept. Jemand schreit ins Mikro: "Jetzt spüren wir die Energie der Menge." Man ist erinnert an die Animation im Clubhotel. Und was man schon am Pool albern findet, das wird hier nicht besser. Bis 22 Uhr soll es so weitergehen, Tanz an Tanz soll sich reihen. Sicherlich ist das nicht die "neue" Volksbühne, aber ein erster Vorgeschmack auf das, was kommen wird: Events.
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