Das Land ist klein und bietet bereits seit Jahren 450 000 geflohenen Palästinensern Zuflucht. Inzwischen sind 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien dazugekommen. Langsam kippt die Stimmung.
Die Vergangenheit hat die Gassen fest im Griff, immer wieder stechen dieselben Worte zwischen dem Gewirr herunterhängender Stromkabel hervor: "Haqq al-Awda", steht da auf Arabisch, "Recht auf Rückkehr". Mal sind die Worte auf palästinensische Flaggen gedruckt, mal auf Hauswände gesprüht, mal auf Banner geschrieben im Flüchtlingslager Schatila in Libanon.
Palästinensische Politiker gehen hier ein und aus, Polizei und Armee haben im Gegensatz dazu keinen Zutritt. 1982 kam es hier zu einem Massaker, libanesisch-christliche Falange-Milizen ermordeten zwischen 800 und 3000 Zivilisten.
In dem Elendsviertel lebten die Palästinenser lange unter sich. Doch in den vergangenen Jahren hat Schatila Zuwachs bekommen: Viele syrische Flüchtlinge, oft mit palästinensischen Wurzeln, sind in den Slum im Westen Beiruts gezogen.
Einst sollte das Lager, das ein Jahr nach der Gründung Israels im Jahr 1949 vom Roten Kreuz erbaut wurde, etwa 3000 Menschen beherbergen, heute leben hier rund 23 000. Die neuen Bewohner machen das Vergessen von Vertreibung und Flucht noch schwieriger - und sie zeigen, wie überfordert Libanon seit fast siebzig Jahren ist mit immer neuen Flüchtlingen.
Schatila ist eines von zwölf anerkannten Flüchtlingslagern, in denen mehr als die Hälfte der 450 000 registrierten Palästinenser in Libanon leben. Aus Syrien sind inzwischen noch einmal mehr als eineinhalb Millionen Menschen nach Libanon geflüchtet. Keine andere Nation hat in Relation zur eigenen Bevölkerung - etwa 4,5 Millionen - so viele syrische Flüchtlinge aufgenommen. Dabei ist das multikonfessionelle Land mit 18 anerkannten Religionsgemeinschaften gerade mal halb so groß wie Sachsen-Anhalt.
"Syrer sind die Sündenböcke für alles, was im Land schief läuft""Schatila ist ein Ort, an dem die Kinder der Nakba zusammenrücken, sagt Galal Abdelhady - "Nakba", Katastrophe, nennen die Palästinenser ihre Vertreibung im arabisch-israelischen Krieg 1948. "Wir haben ja nichts, was wir teilen könnten." Der 27-Jährige arbeitet im Kinderzentrum "Die Träume eines Flüchtlings", um überhaupt irgendetwas zu tun zu haben.
Der 27-jährige Palästinenser Galal Abdelhady arbeitet für die NGO Ahlam Laje ("Träume der Flüchtlinge") in Shatila, Beirut.
(Foto: Erol Gurian)Obwohl viele Palästinenser wie Abdelhady hier geboren wurden, haben sie kaum Rechte. Bestimmte Berufe wie Arzt, Landwirt oder Ingenieur dürfen sie nicht ergreifen und wenn sie Arbeit haben, verdienen sie einen Bruchteil von dem, was Libanesen bekommen. Auch Syrern sind viele Berufszweige in Libanon verwehrt.
"Unsere Rechte werden Träume bleiben", sagt Abdelhady. Er sieht sich um, er möchte nicht, dass die Kinder, die jeden Nachmittag zur Nachhilfe kommen, seine düsteren Gedanken bemerken. "Sie werden früh genug erfahren, dass sie keine Chance haben", sagt er. Im Gegensatz zu syrischen Kindern werden diese Kinder nie die Möglichkeit haben, einmal in ihre Heimat zurückzukehren, sagt er. "Für Syrer ist es gerade eine schreckliche Zeit, aber irgendwann geht der Krieg zu Ende. Für uns Palästinenser ist die Sache gelaufen. Ich werde meine Heimat nie sehen können."
"Die Lage der Palästinenser war bereits vor der Syrienkrise verzwickt", sagt der libanesische Autor Elias Khoury, der sich als junger Mann der palästinensischen Fatah anschloss. Im Westen gilt der 69-Jährige als kritischer Beobachter der Zeitgeschichte in der Region, sein bekanntester Roman "Das Tor zur Sonne" erzählt von der Entwurzelung der Palästinenser. Durch die syrischen Flüchtlinge habe sich das Schicksal der Palästinenser gewandelt: "Sie sind in Vergessenheit geraten. Heute regen sich die Libanesen nur noch über die Syrer auf. Sie sind die neuen Sündenböcke für alles, was im Land schiefläuft - und das ist einiges."
Rétablir l'original