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"Was sollen wir denn sonst machen?"

Treffpunkt ist der Brezel­könig beim Bahnhof Stadelhofen in Zürich. Schnell noch ein Billett kaufen? Nein, zu kompliziert: Schwarzfahren, Geld sparen. Die Gruppe aus zehn Jugendlichen verteilt sich flink auf den Sitzen. Die Mädchen tragen Röcke und zeigen viel Bein. Ihre Füsse stecken in Uggs. Die Jungs tragen Seglerschuhe, weite Jeans und Karohemden. Sie sind zwischen 14 und 17 Jahren. Der älteste, Luis, ist bald 18. Er ist der Anführer, das Alphatier, und auch der grösste von ihnen. Seine Freundin Jasmine schmiegt sich an seine Schultern. Luis strahlt mehr Stärke aus als die anderen Jungs; wenn er etwas sagt, hören seine Freunde hin. Er hat die Augen immer etwas zusammengekniffen. Das sieht gefährlich aus. "Luis ist ein prima Kerl", findet aber sein Kumpel Philipp. "Auf ihn kann man sich verlassen, er schaut zu uns."


An der Zürcher Goldküste stapft die Zehnergruppe den Hügel hoch, zu einem gros­sen Haus mit einem Teich und einer Terrasse mit Seeblick. "Homeparty vor dem Ausgang ist super", sagt Luis. Warum, ist keine Frage: "Wegen dem Einsaufen." Der Gastgeber empfängt die Gruppe mit weissen Tennissocken. Aus Plastiksäcken vom Drinks-of-the-World-Laden am HB ziehen sie nun Wodka-, Rum- und Bacardi-Flaschen hervor. "Wir fragen halt immer die älteren Leute, ob sie uns Alk kaufen können", erklärt Sarah. Das scheint zu funktionieren. Als die Plastikbecher gefüllt sind, huscht im Haus ein älterer Mann am Fenster vorbei. Der Vater von Jan, dem Gastgeber. Er hat also gar nicht sturmfrei. "Ach, meine Eltern wissen, dass ich sowieso trinke. Dann finden sie es besser, wenn ich es hier mache", sagt Jan locker. Sie hätten ihm sogar schon mal Alkohol vom Top CC mitgebracht.

"Die Mädchen wollen halt schlank bleiben."

Schon ist das Thema erledigt. Sie stossen an, trinken einen kräftigen Schluck. Rauchen tut fast niemand, ausser zwei Mädchen. Von den Jungs keiner: "Ich spiele Fussball", sagt Marco. "Die Mädchen wollen halt schlank bleiben und rauchen deshalb." Die erste Flasche Bacardi ist ausgetrunken. Es kommen immer mehr Leute auf die Terrasse. Sie gleichen sich, als hätte man sie in eine Uniform gesteckt. Sie quatschen über die Schule, über Fussball, über Kleider, über andere, zwischendrin stecken sie die Köpfe zusammen und schiessen mit ihren Handys ein Foto. Je betrunkener sie sind, desto mehr blitzt es. "Oh nein, aber nicht auf Facebook stellen, das sieht mein Lehrmeister", sagt ein Mädchen, das nicht wie die meisten anderen ins Gymi geht.


Ohne Alkohol geht nichts

Nach einer Stunde stehen bereits vier leere Flaschen auf dem Tisch. Das Hochprozentige geht weg wie Sirup, sie trinken jedenfalls schnell und schenken gleich nach. Auf den schnellen Konsum angesprochen, meint Jan nur: "Ach, einer meiner Kumpels war schon mal in dieser Ausnüchterungs­zelle, weisst du, wie peinlich das war, als ihn seine Eltern abholen mussten? Mir würde das nie passieren. Wirds mir schlecht, höre ich meistens auf." Sagts und nimmt nochmals einen Schluck. Auch ein Mädchen meint, sie würde zwar am Wochenende schon trinken, "jedoch nie unter der Woche, und so lange ist alles gut". Aber am Wochenende geht für die Clique nichts ohne Alkohol. "Es gehört doch einfach dazu, um ein wenig abzuschalten", sagt Luis. Wenn er an einem Wochenende nicht in den Ausgang geht, arbeitet er bei seinem Onkel in einer Gärtnerei – dort verdient er an einem Tag rund 100 Franken. Genug, um sich am Wochenende eine Flasche Gin oder ein paar Drinks zu kaufen.


Turbo-Trinken zum Zeitgeist

In seinem Buch "Lieber schlau als blau" spricht der Psychologe Johannes Lindenmeyer von einer "gestörten Trinkkultur". In den Ländern Mitteleuropas, aber auch in den USA und in Russland wird viel Alkohol getrunken, und dies kaum mit Regeln. "Heute ist Alkohol überall und 24 Stunden erhältlich. Das führt dazu, dass immer mehr un­abhängig von traditionellen An­lässen, also ohne Rahmen und ohne soziale Kontrolle, Alkohol konsumieren", sagt Roger Zahner von der Zürcher Suchtpräventionsstelle.

Zum heutigen Zeitgeist passt auch, dass viele Leute innert kurzer Zeit eine grosse Menge Alkohol trinken. "Das Turbo-Trinken passt zu der heutigen Gesellschaft, die auch in anderen Bereich das Ultimative in schneller Geschwindigkeit sucht", sagt Eveline Winnewieser am Rand einer Veranstaltung zum 25-Jahr-Jubiläum der Suchtpräventions­stellen des Kantons Zürich. "Alkohol ist dabei klar die Droge Nummer eins unter den Jugendlichen", sagt sie. Früher hätten sie zum Rausch eher gekifft. Heute stehe für sie Alkohol im Vordergrund. Dies habe mit der kulturellen Verankerung, der Verfügbarkeit und dem tiefen Preis zu tun.


Im grössten Jugendhaus der Schweiz

Die Clique steigt wieder in die S-Bahn und fährt zurück in die Stadt. Während der Zugfahrt ziehen die Mädchen alle hohe Pumps an, ausser Raphaela – sie hat keine dabei, sondern muss ihre Uggs anbehalten. "Die Schuhe sind viel zu warm drinnen", sagt sie. Weil sie aus dem Rahmen fällt, schaut sie unsicher auf die Füsse der anderen, dann aus dem Fenster. Der HB hat sich inzwischen in das grösste Jugendhaus der Schweiz verwandelt, überall stehen Jugendliche mit Bier- oder Wodka­flaschen in der Hand. Im Tram geht es Richtung Paradeplatz weiter, Phi­lipp grüsst einen Freund. "Boah, letztes Wochenende bist du aber ziemlich steil gegangen", sagt er zu ihm. Dieser lächelt verlegen, dann kommt die Coolness zurück: "Ja eh, ich hab ja auch allein fast eine halbe Flasche Wodka getrunken." Er sagt es so stolz, als hätte er gerade eine Matheprüfung bestanden. Irgendwie praktisch: Alkohol als coole Entschuldigung, wenn einem das Ego wieder einmal total entglitten ist.

Vor dem Club Alte Börse steht eine lange Schlange – heute ist die beliebte Nasty-Trash-Party. Die Leute hier sind knapp älter als die Clique von Jan: über 18. Der Türsteher kontrolliert jeden Ausweis. Ein Mädchen sagt, sie würde gern rein. Gefälschte Ausweise haben sie heute aber nicht dabei. Nur manchmal solche von Freunden, die das magische Alter überschritten haben. "Ich habe ein, zwei Kolleginnen, wenn sie nicht weggehen, bekomme ich ihren Ausweis. Das klappt meistens", erzählt Sandra. Eine andere sagt, sie hätte es schon oft mit der ID ihrer älteren Schwester geschafft.


Flatrate-Saufen

Die Gruppe läuft an der Schlange vorbei zur Platform-Bar. Am Eingang steht kein Türsteher, sondern ein Typ, der allen einen Gutschein in die Hand drückt. Drei Drinks und drei Shots für 30 Franken. Ein Schnäppchen, das alle dankend annehmen. Drinnen hat Jan telefonisch einen Tisch für seine Freunde reserviert. Kübel mit Wodkaflaschen und Red Bull oder sonstigen Drinks stehen aber nicht darauf. Philipp und Jan ordern einen Gin Tonic und zwei Wodka-Shots an der Bar, stos­sen an, nach dem Ausweis fragt niemand.

Die Augen der beiden werden langsam glasig, die Mädchen hingegen lachen und gehen immer wieder raus, um zu rauchen, zu lästern und zu versuchen, vielleicht doch in den Club zu kommen. Obwohl sie sich bereits aneinander festhalten, kichernd und strauchelnd: "Hey, ich hab schon zu viel getrunken, glaub ich", "Hey, was ist eigentlich mit diesem Typen, dem Dani, mit dem du letztes Weekend rumgeknutscht hast", "Hey, die sieht ja scheisse aus mit diesen Stulpen, bäh." Drinnen verzieht Jan das Gesicht, aber nicht, weil er den Alkohol spürt, sondern weil der Ex seiner Freundin auftaucht und sich dreist zu ihnen an den Tisch setzt. "Was macht der hier", flüstert Jan zu Philipp. "Ich steh gleich auf und hau ihm eine rein." Seine Freundin will ihn beruhigen, doch Jan stellt sich taub, fixiert seinen Kontrahenten und nimmt noch einen Schluck von seinem Drink. Seine Freundin geht hinaus zu ihren Kolleginnen. "Mann, wieso stresst ihn das so? Ich hab doch gesagt, dass mir mein Ex egal ist", sagt sie, "immer dieses Theater, wenn er betrunken ist", dann stolpert ihr auch schon eine Kollegin mit verdrehten Augen in die Arme, sie kann kaum mehr gehen. "Ich will da rein", trotzt sie.


Mit halb offenen Augen

Um Mitternacht verflüchtigt sich alles, die Gruppe scheint in sich selbst zu verschwimmen. Jan sagt: "Scheisse, jetzt bin ich schon wieder viel zu hinüber, dabei wollte ich heute noch die Nacht mit meiner Freundin geniessen." Philipp hingegen hat die Augen nur noch halb offen und mag nicht mehr reden, der Fussballer knutscht mit einem Mädchen rum, und die Girls draussen versuchen, mit ihren Pumps nicht hinzufallen. In die Clubs kommen sie nicht rein, also vielleicht heimgehen? "Genau das ist es", sagt Luis' Freundin. "Was sollen wir denn sonst machen ausser trinken? Tanzen geht ja in der Bar drin nicht. Ich glaube, ohne Alkohol könnte ich gar nicht den ganzen Abend hier drin sitzen und es lustig haben."


*alle Namen geändert Dieser Text erscheint in der aktuellen Ausgabe von 20 Minuten Friday. Das Heft liegt am Freitag jeweils ab 12 Uhr in 900 Verteilboxen von 20 Minuten.

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