Es ist der 28. März 1944, als der niederländische Erziehungsminister Gerrit Bolkestein die Bevölkerung im Radio dazu aufruft, ihren Alltag aufzuschreiben. „Behaltet eure Tagebücher und Briefe", appelliert er. Auch das Mädchen Anne Frank nahm den Aufruf zum Anlass, ihre Notizen noch mal durchzugehen, fortan in der Hoffnung, dass sie eines Tages viele Menschen lesen würden. Ihr Tagebuch wurde zum meistgelesenen Zeitzeugnis der Judenverfolgung im Nationalsozialismus.
Nicht nur die 13- bis 15-jährige Anne dokumentiert ihr Leben unter der deutschen Besatzung. Tausende Niederländer*innen erzählen ihren Notizbüchern von Zerstörung, Hunger und Angst, aber auch von Hoffnung und Solidarität. Wenn es an Papier mangelt, kritzeln sie ihre Gedanken auf die Innenseiten von Briefumschlägen, auf die Rückseiten von Monopoly-Geldscheinen, ja sogar auf Zigarettenpapier.
Noch heute, 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sind im NIOD, dem Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien, der Königlichen Bibliothek der Niederlande und anderen Institutionen mehr als 2.100 Kriegstagebücher archiviert. Seit 2018 helfen unter der Leitung von René Pottkamp Freiwillige dabei, die Dokumente zu transkribieren und zu digitalisieren. „Der Leser erlebt die Ängste, Unsicherheiten und Sehnsüchte mit, fast so, als würde er dem Autor oder der Autorin über die Schulter schauen", sagt Pottkamp vom NIOD. „Mit dem Unterschied, dass wir heute wissen, wie alles ausgeht."
Hier zeigen wir Auszüge aus drei Tagebüchern:
1933 floh der damals 10-jährige Arnold Heilbut mit seiner Familie aus Hamburg nach Amsterdam, wo er das jüdische Gymnasium besuchte. Sein Tagebuch beginnt im Februar 1940. Am 10. Mai 1940 überfällt die Wehrmacht die Niederlande.
10. Mai 1940, 5:30 Uhr
23. Februar 1941
Das jüdische Viertel wurde heute wieder von der Grünen Polizei [der Ordnungspolizei der Nazis] abgesperrt. Es wurden ungefähr 50 Personen festgenommen [...]. Als Jude lebst du hier jetzt etwas unruhig.
23. März 1941
Heute war ein Tag, an dem wir nicht wussten, wo vorne und hinten ist. Gestern Abend hatte ich mich mit Judith [Wolff] und Ruth Knoller verabredet, zu „Was ihr wollt" von Shakespeare zu gehen. Heute früh bekam Judiths Großmutter einen Anruf. Es war das Komitee, sie müsse am Morgen den ersten Zug nach Berlin nehmen. Obwohl seit Wochen alles vorbereitet war, ging es natürlich furchtbar schnell für sie, aber wir konnten ihr helfen. [...] Morgen früh um 6:30 Uhr fährt sie mit dem Expresszug nach Berlin, und wahrscheinlich Dienstag nach Lissabon, von wo aus sie hofft, Mitte April mit dem Schiff in die USA zu fahren. Hoffentlich geht das gut aus.
29. März 1941
Donnerstagnachmittag herrschte in der Stadt eine echte Feierstimmung. [...] Wir alle erwarten, dass dies das letzte Kriegsjahr ist; dass es im Sommer oder Herbst vorbei ist.
Judith Wolffs Flucht gelingt. Arnold Heilbut wird am 11. oder 12. Juni 1941 auf der Straße verhaftet und am 26. Juni 1941 im KZ Mauthausen ermordet.
(...)
Fluter.de, 8. Mai 2020.
Platz 3 in der Wochenauswahl von Reportagen.FM (15. Mai 2020).
Rétablir l'original