Der Himmel war klar und die Rodelbahn vereist. Ich hatte meine Liebsten um mich, es war der letzte Tag des Jahres 2017. Ich rodelte so schnell wie noch nie und plötzlich flog ich mit gefühlt 60 Stundenkilometer durch die Luft. Ich merkte nur, wie meine Brille sich verabschiedete. Ich landete mit dem Gesicht am vereisten Boden. Ich sah nichts. Ich schmeckte nur Schnee, Schweiß und Blut.
Nur eine leichte Gehirnerschütterung, erklärten sie mir im Krankenhaus. "Ruhen Sie sich ein bisschen aus." Wenn die Schmerzen in ein bis zwei Wochen nicht besser werden, sollte ich noch einmal kommen. Das war vor neun Monaten. Und nach wie vor wache ich fast jeden Tag mit Kopfschmerzen auf. Als ich von der Rodel flog, stürzte ich nicht nur auf den Boden, sondern auch in ein Loch.
Um es gleich vorweg zu sagen: Es fällt mir extrem schwer, diese Geschichte aufzuschreiben. Ich hatte noch nie solche Angst, meinen Namen unter einen Artikel zu setzen (und ich war bereits mit Schmiss am Akademikerball und unangemeldet bei Treffen von Rechtsextremen, Staatsleugnern und verschwörerischen Handy-Strahlen-Gegnern). Ich habe Angst, mich mit diesem Text selbst zu stigmatisieren, mich zu blamieren.
Auch bei VICE: Chaos in Chemnitz"Zuzugeben, etwas nicht zu können, lag mir fern."
Vor allem junge Männer kennen diese Angst wohl gut. Ich bin ihr jedenfalls schon öfter begegnet. Als ungefähr 13-Jähriger etwa verschlechterten sich meine Schulnoten drastisch, weil ich aufgrund meiner Kurzsichtigkeit die Zeichen an der Tafel nicht mehr erkennen konnte. Ich verheimlichte das in meinem Freundeskreis, erklärte meinen Eltern, dass ich keine hässliche Brille brauche und dachte nicht daran, mich von der letzten in die erste Reihe zu setzen. Zuzugeben, etwas nicht zu können - auch, wenn es eine sehr verbreitete, ziemlich harmlose körperliche Einschränkung ist -, lag mir fern.
Heute will ich darauf scheißen. Ich habe keine Lust mehr, das Negative in mir für mich zu behalten. Ich habe keine Lust mehr, auf Hauspartys eine geile Geschichte nach der anderen zu erzählen, wenn das Gegenüber eigentlich wissen will, wie es mir geht. Ich habe keine Lust mehr, die lächelnde Fassade zu wahren, um meine Außenwelt mit meiner Wirklichkeit zu konfrontieren. Ich schreibe diesen Text, weil ich weiß, dass der gegenwärtige Umgang mit psychischen Krankheiten eine Depression noch beschissener macht als sie ohnehin schon ist.
Kurz ein Gedanke für die Leute, die diesen Artikel gerade wegklicken wollen, weil sie keine psychische Krankheit haben und sich gut gerüstet fühlen, im Fall der Fälle mit einer Depression umgehen zu können: Bis vor einem Jahr war ich einer von euch. Ich dachte, es reicht, ein bisschen auf die eigene Work-Life-Balance zu achten und mit Kritik und Rückschlägen umgehen zu können. Ich dachte, es reicht, mit dem drückenden Gefühl der Unsicherheit umgehen zu können.
Ich habe gedacht, dass jedes Hindernis mit der richtigen Portion Willensstärke zu bewältigen sei. Ich weiß noch, wie ich als Junge beim Fußballspielen erst so richtig in Fahrt kam, als einige Kollegen schon aufgegeben hatten. Einen 5:0 Rückstand aufzuholen, das war die beste Voraussetzung für mich. Ich hatte Tränen in den Augen als der FC Liverpool im Champions-League-Finale 2005 einen 0:3 Rückstand gegen den AC Milan aufholte. Die Heldengeschichten meiner Kindheit waren fast alle nach diesem Muster gestrickt. Sie sind ein Grund, warum ich mit der Depression so schlecht umgehen konnte.
Nach meinem Unfall und dem Krankenhaus-Aufenthalt freute ich mich fast ein wenig darauf, die ärztliche Erlaubnis zu haben, mich auszuruhen. Für mich bedeutete das, die Zeit für Sachen zu nutzen, die ich schon lange auf die lange Bank geschoben hatte. Es war die Zeit, die man mit "wenn ich mal Zeit habe" herbeisehnt. Ich las endlich die Sachbücher, die sich bei mir gestapelt hatten, probierte neue Rezepte aus, kaufte ein Fahrrad und schraubte daran rum, machte Sport, traf mich mit Freundinnen und Freunden und versuchte im Serien-Smalltalk-Game aufzuholen. Ich wollte die Wartezeit produktiv nutzen.
Meine Kopfschmerzen wurden aber nicht weniger, sondern mehr. Ich konnte das weder verstehen noch akzeptieren. Ich konnte nicht verstehen, dass ich mich um 10 Uhr komplett "gesund" fühlte und um 12 Uhr meinen Kopf unter kaltes Wasser halten musste, weil ich dachte, er würde gleich explodieren. Die ersten Wochen konnte ich nicht glauben, dass an sich harmlose Aktivitäten meine Kopfschmerzen verstärken. Ich konnte nicht glauben, dass der Schmerz fünfmal so stark geworden war, nur, weil ich 10 Minuten lang auf dem Handy etwas nachgeschaut hatte. Ich konnte nicht glauben, dass der Schmerz schon in der Früh da war, nur, weil ich zwei Stunden weniger als sonst geschlafen hatte.
"Du musst jetzt irgendwie zehn Stunden rüberbringen, bis du wieder schlafen kannst."
Es war ein ständiges Hin und Her, das ich nicht begriff. Es war die Unvorhersehbarkeit der Schmerzen, die mich so fertig machte. Von "Endlich genesen!" über "Ich halt das nicht mehr aus!" bis hin zu "He, bildest du dir die Schmerzen vielleicht einfach nur ein?" vergingen oft nur ein paar Stunden. Als es mir ein paar Tage lang besser ging, kehrte ich in die Arbeit zurück und erzählte stolz und etwas entschuldigend, dass ich jetzt wieder einsatzfähig sei. In der Nacht nach meinem ersten Versuch, wieder zu arbeiten, biss ich mir unbewusst in die Lippen. Beim zweiten Versuch zu Arbeiten zerkratzte ich mir im Schlaf den Unterarm. Und ja, ich habe es auch ein drittes Mal probiert. Es dauerte gut drei Monate, ehe ich einen Zusammenhang zwischen meinem Lebensstil und den Kopfschmerzen sehen konnte.
Diese Erkenntnis forderte meinen Ehrgeiz heraus: "Ha, diese Krankheit glaubt, sie kann mir was anhaben! Dich lösch ich aus." Ich hatte endlich einen konkreten Feind, meinen Lebensstil, den ich bekämpfen konnte. Ich reduzierte meine Handy-Zeit von sechs Stunden pro Tag auf unter eine Stunde. Ich tauschte mein Streaming-Abo gegen ein Hörbuch-Abo und meine fast ausschließlich digitale Arbeit gegen eine analoge Bildungskarenz auf der Uni Wien (den Laptop braucht man dort immer noch nur für die Anmeldung zu Lehrveranstaltungen).
Als die Krankenkasse mir andeutete, ich tue zu wenig für meine Genesung, ließ ich ein Röntgen und ein MRT machen. Zwei Monate später noch einmal. Ich ließ ein EEG, ein CT und eine Ultraschalluntersuchung der Halswirbel machen. Ich ging zur Neurologin, zum Orthopäden, zu einem Epilepsie-Spezialisten, zum HNO-Arzt, zum Zahnarzt, zur Osteopathin und sogar zu einer Masseurin. Ich kaufte zwei dicke Schinken zum Thema Kopfschmerz. Ich startete ein Schmerz-Tagebuch in einer Migräne-App. Darin sammelte ich immer mehr potentielle Trigger, die den Schmerz eventuell schlimmer machten: Stress, Schlafmangel, Hitze, Wetterumschwung, Alkohol, Koffein, vergessenes Magnesium - die Liste wurde unglaublich lang. Aber es geht nur so, dachte ich. Wenn ich besser auf meinen Körper höre, finde ich alle Trigger und damit das Ende der Schmerzen.
Rétablir l'original