Die Sekunden vor dem Start ziehen sich hin wie in Zeitlupe. Firman hält sich krampfhaft an den Zügeln des Pferdes fest, auf das ihn sein Onkel Abdul Ghani gerade erst gesetzt hat. Der Fünfjährige kennt das Pferd nicht, nicht einmal seinen Namen – es gehört einem reichen Geschäftsmann aus der Bezirkshauptstadt, der dafür bezahlt, dass der Junge es reitet. Das Pferd ist nervös, es versucht sich aus dem starken Griff des fremden Mannes und der engen Startbox zu befreien. Von oben brennt die sengende Mittagssonne.
Links und rechts von Firman klammern sich fünf weitere Jungen an die aufgeregten Pferde. Sie sitzen auf dem bloßen Pferderücken, ohne Sattel, ihre nackten Füße suchen Halt am glatten Pferdefell. Ihre Köpfe drücken sie eng an die Hälse der schnaubenden Tiere, die Gesichter unter wollenen Masken und schlecht sitzenden Reiterhelmen versteckt. Auf den gelb gestrichenen Metallverschlägen zwischen den sechs Startboxen kauern ihre Väter, Onkel oder größeren Brüder, um die Pferde in Schach zu halten und gleichzeitig mit Schläge für das Rennen „aufzuheizen“. Das ganze Startgestell, das auf Rädern steht, wackelt.
Als mit einem metallischen Schlag die Falltüren vor den Startboxen hochklappen, geschieht alles wie automatisch. Die Pferde preschen in der tropischen Mittagshitze los, Staubwolken wirbeln hinter ihnen her, von einer überdachten Tribüne kommen anfeuernde Schreie der Zuschauer. Firmans Pferd sackt kurz nach vorne weg, doch der Junge kann sich halten und fängt an, das Hinterteil seines Reittiers mit der Gerte zu bearbeiten, wie er es beigebracht bekommen hat. 1400 Meter lang ist die sandige Rennstrecke vor ihm, etwa 1,6 Minuten benötigen die Tiere mit ihren Jockeys, um die „Panda“-Arena außerhalb der Stadt Bima auf der indonesischen Insel Sumbawa anderthalbmal zu umrunden.
„Als ich zum ersten mal bei einem Rennen auf Sumbawa war, konnte ich kaum glauben, wie klein die Jockeys waren. Ich machte Bilder, viele Bilder, und dann stürzte genau vor mir ein Junge vom Pferd“, erzählt der Fotograf Romi Perbawa. „Der Junge schrie vor Schmerz, er hatte sein Schulterbein gebrochen, es gab keine Ambulanz vor Ort. Also brachte ich ihn mit meinem Wagen in die nächste Klinik, wo er verbunden wurde. Bis heute bin ich mit seiner Familie befreundet.“ Seit diesem Erlebnis ließ den heute 48-Jährigen das Schicksal der Kinderjockeys nicht mehr los. Perbawa, der in der Drei-Millionen-Stadt Surabaya auf der Insel Java lebt und selbst zwei Kinder hat, fuhr immer wieder zurück auf das 700 Kilometer weiter östlich gelegene Sumbawa, um die Geschichten der kleinen Jockeys einzufangen. Er ging zu ihren Familien, sprach mit Eltern, deren Söhne bei den Rennen verletzt worden oder sogar gestorben waren, wollte herausfinden, was sie dazu trieb, ihre Kinder einer solchen Gefahr auszusetzen. Er traf auch Pferdebesitzer, meist hohe Beamte oder reiche Geschäftsleute – teils aber auch echte Pferdefreaks – sowie deren Mittelsmänner, Trainer und Pferdepfleger. Und er lernte vor allem eines: Es gibt keine einfache Antwort.
Dass Jungen auf Sumbawa Pferderennen reiten, hat eine lange Tradition: Die stämmigen Sumbawa-Pferde werden nur 1,2 Meter hoch – zu klein für Erwachsene. Auf diese Tradition berufen sich lokale Politiker und Organisatoren, wenn es Proteste von Menschrechtlern und Kinderschutzorganisationen gegen den brutalen Sport gibt, bei dem immer wieder Kinder verstümmelt werden oder gar umkommen. Das Leben auf der kargen Insel Sumbawa ist harsch, es ist eine der ärmsten Regionen Indonesiens, für Reisanbau zu trocken. Doch die Menschen sind stolz auf ihre alte Kultur, schon im einst mächtigen Sultanat Bima spielten Pferde eine wichtige Rolle. Wer heute etwas auf seinen sozialen Status hält, muss ein Rennpferd besitzen. Tatsächlich berichten die Dorfältesten überall auf Sumbawa davon, dass es schon in ihrer Jugend Pferderennen gab und in der Jugend ihrer Eltern ebenfalls. Allerdings handelte es sich damals eher um eine Art Initiationsritus für Jungen, die in die Pubertät kamen – viele sprechen von mindestens 12- bis 14-Jährigen. Zudem fand das Kräftemessen auf einer geraden Strecke ohne Kurven und auf weichem Untergrund statt. Die ersten Rennen in einer festen Arena veranstalteten die niederländischen Kolonialherren in den 1930er-Jahren in Bima. Auch gewettet wurde erst später – was in der streng islamischen Kultur zumindest auf dem Papier noch heute illegal ist, aber dennoch eifrig bei jedem Rennen praktiziert wird.
„Die Jockeys werden immer jünger – mittlerweile werden schon Vierjährige trainiert“, beklagt Romi Perbawa. „Je leichter die Jungen, desto schneller die Pferde, desto besser die Preisgelder, das ist die perfide Rechnung.“ Dabei kommt der Reiternachwuchs immer aus bedürftigen Familien. Kein reicher Besitzer der bis zu 10.000 Franken teuren Pferde würde seine Söhne dem Risiko der ungesicherten Rennen aussetzen. Die Entschuldigung ist in der Regel, dass die eigenen Kinder „kein Talent“ hätten. Stattdessen „mieten“ sie die Jockeys an, die für jedes einzelne Rennen nach festen Sätzen bezahlt werden und bei einem Sieg – wenn der Pferdebesitzer großzügig ist – oft auch die Prämie behalten darf, etwa ein Moped, eine Kuh oder ein Kühlschrank.
Die Familie von Abdul Ghani kennt Perbawa, seitdem dessen ältester Sohn Riang ein Star der Jockey-Szene war. Der 35-jährige Fischer Ghani aus dem Dorf Godo bei Bima ist selbst nie geritten, auf eine Familientradition wie bei vielen anderen Jockeys kann er sich also nicht berufen. Er ging jedoch gern zu den Rennen in der nahen Arena, er mochte die spannungsgeladene Atmosphäre und bewunderte den Mut der Jockeys – und er sah, wie viel Geld die Jungen für ihre waghalsigen Ritte bekamen: bis zu 300.000 Rupiah (21 Franken) an einem normalen Trainingstag, bei Rennen mindestens vier Millionen Rupiah (285 Franken) für einen zehntägigen Einsatz. Seine Fischzucht brachte ihm durchschnittlich nicht mehr als 400.000 Rupiah (28,5 Franken) im Monat ein.
Also begann er seinen damals achtjährigen Sohn zu trainieren, der sich als Talent herausstellte. „Am Anfang hatte ich Angst – aber ich durfte nicht aufhören, sonst hat mich mein Vater geschlagen“, erinnert sich der heute 15-jährige Riang an die ersten Trainings. Neben der Mittelschule hilft er mittlerweile als Pferdepfleger im Stall: „Jetzt vermisse ich das Reiten, aber ich bin schon zu groß. So kann ich den Pferden wenigsten nahe sein.“ Mit dem Geld, das Riang nach Hause brachte, sanierte die Familie ihr Haus, kaufte Kühlschrank, Fernseher und die dazugehörige Satellitenschüssel – und bezahlte das Schulgeld für die insgesamt fünf Kinder. Der zweite Sohn Rendi musste schon mit sechs Jahren aufs Pferd, der nächstjüngere Hendri mit fünf Jahren. Beide waren mittelmäßig erfolgreich, sind mit zehn und zwölf Jahren jetzt aber so groß, dass sie bei Rennen kaum noch gebucht werden.
„Man kann es den Familien nicht übelnehmen, dass sie ihre Kinder aufs Pferd setzen – sie haben kaum andere Perspektiven, sich aus der Armut zu befreien“, erklärt Romi Perbawa, der die Karriere der Jungen in seinen Bildern festgehalten hat. „Sie sind außerdem stolz auf ihre Söhne, die zumindest kurzfristig zu den Helden der lokalen Gesellschaft gehören.“ Das Anliegen des Fotografen, der mit seinem Bildband über die Kinderjockeys internationale Aufmerksamkeit erregt hat, ist daher nicht, die Pferderennen komplett zu verbieten. „Aber die Regierung muss eine vernünftige Altersgrenze setzen – und es muss Sicherheitsvorschriften geben: richtige Helme, Reitschuhe, bei jedem Rennen muss eine Ambulanz bereitstehen. Außerdem sollte die Zahl der Rennen beschränkt werden, die Jockeys müssen Versicherungen und richtige Verträge von den Pferdebesitzern bekommen.“ Ein entsprechendes Moratorium liegt der Provinzregierung bereits vor – doch der Gouverneur, selbst Pferdebesitzer, hat es bislang nicht unterschrieben.
Bei seinem letzten Rennen vor zwei Monaten ist Rendi gestürzt und hat sich das Schienbein gebrochen. Es gab keine Ambulanz, sein Vater brachte ihn auf dem Moped zu einem traditionellen Heiler. Für eine Operation im Krankenhaus reichte das Geld nicht, der Besitzer des Pferdes übernahm keine Verantwortung. Noch immer muss Rendi jeden Tag den Verband wechseln, er wird frühestens in ein paar Monaten wieder richtig laufen können. Seine Karriere als Jockey ist damit vorbei, zumindest auf Sumbawa. Wie andere Altersgenossen kann er vielleicht noch zwei weitere Jahre Rennen auf der Nachbarinsel Sumba reiten, wo die Pferde deutlich größer sind und die Reiter pro Saison bezahlt werden. Danach wird er versuchen, in der Schule aufzuholen, was er über viele Jahre verpasst hat: Die Jockeys werden teilweise über Monate vom Unterricht freigestellt, wenn Rennsaison ist. Sieben zehntägige Rennen an vier verschiedenen Orten finden auf Sumbawa jedes Jahr statt, das sind mit An- und Abreise rund 100 Fehltage. Viele Jockeys können am Ende der Grundschule noch nicht einmal das kleine Einmaleins.
„Eigentlich wollte ich nicht, dass alle meine Söhne Jockeys werden. Ich habe immer Angst, dass sie vom Pferd fallen und sich verletzen“, sagt Rendis Mutter Nurleila. Aber wir haben sonst nicht genug Geld, um zu leben.“ Sie sitzt auf dem kahlen Zementboden ihres Backsteinhauses, in dem es nach feuchten Wänden und dem scharfen Fischcurry riecht, das auf einem Gaskocher brodelt. In den Armen wiegt sie ihren zwei Monate alten Sohn Muhammad: „Auch er soll mal Jockey werden“, sagt sie. Weil es bis dahin noch einige Jahre dauern wird, nahm sie den kleinen Firman auf, den Sohn einer verwitweten Kusine mütterlicherseits. Die Bedingung: Er wird als Jockey trainiert, um mitzuverdienen, die Kusine erhält einen kleinen Anteil.
Und Firman war ein Glücksgriff: Er ist ein Draufgänger, der von Anfang an keine Angst hatte – und er ist ehrgeizig. Beim wichtigsten Rennen der Saison in der Panda-Arena ist er einer der jüngsten Jockeys, die Pferdebesitzer haben alle ein Auge auf ihn, schon jetzt gilt er als kommender Star. Mehr als zehnmal reitet er an diesem Tag, immer auf verschiedenen Pferden. Einmal stürzt er nach der ersten Kurve, trägt einige Schürfwunden und eine dicke Lippe davon. Beim übernächsten Start sitzt er wieder auf einem anderen Pferd, nachdem ihn Ghani kurz auf den Arm genommen und beruhigt hat. Der Kleine hat keine Träne verdrückt, Weinen dürfen Jockeys nicht, das würde Schwäche bedeuten. Firman wird heute nicht Tagessieger, aber er schneidet nicht schlecht ab – finanziell hat es sich auf jeden Fall gelohnt.
„Die Eltern verlassen sich vollkommen auf das Einkommen der Kinder. Die meisten suchen keine andere Arbeit mehr und nur wenige legen das Geld sinnvoll an – etwa in Landbesitz oder Tierzucht“, beklagt Romi Perbawa. „Mit der lückenhaften Schulbildung bleibt den Jungen dann meist nichts anderes übrig, als Pferdepfleger zu werden – und später ihre eigenen Söhne wieder als Jockeys zu trainieren.“ Und doch ist der Fotograf auch fasziniert von der Pferdekultur auf Sumbawa: Wie natürlich viele Menschen hier mit den Tieren unter einem Dach leben, wie die Jockeys mit ihren Pferden verschmelzen – vor allem dann, wenn sie nicht unter Druck stehen.
Zur Arbeit der Jungen während des zehntägigen Rennens gehört es, die Pferde jeden Nachmittag in der Bucht von Bima zu baden, bevor die Sonne hinter dem mächtigen Vulkan Tambora verschwindet. Ohne Sattel und Zaumzeug und nur mit kurzen Hosen bekleidet reiten sie in einer langen Reihe von den Ställen nahe der Arena die Straße hinunter zum Strand von Kalaki und direkt ins Meer. Kinder und Tiere genießen es offensichtlich, gemeinsam im Wasser zu tollen: Die Jungen üben Saltos vom Rücken der Tiere, die ausgelassen ihre Mähnen schütteln. Die Anspannung des Tages scheint mitsamt allem Staub und Dreck wie weggewaschen zu sein.
Fotos: Romi Perbawa
Rétablir l'original