Die Deutschen bleiben auch mitten in der Nacht an einer roten Ampel stehen, selbst wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist. Obwohl man gehen könnte, es sieht ja keiner. Wie an fast jedem Klischee ist auch hier etwas Wahres dran. Wir lieben Regeln, sie geben Orientierung. Müll trennen, nicht zu schnell fahren, Pfand gehört daneben, zur Begrüßung reicht man sich die Hand. So was.
Doch seit die Corona-Krise den Alltag bestimmt, funktionieren die Koordinaten nicht mehr. Wir sind "lost in agreements" und kommen kaum hinterher: anderthalb oder zwei Meter Abstand? Auf der Parkbank lesen oder weitergehen? Mit oder ohne Maske? Und wie war das noch mal in Thüringen geregelt? Die Vereinbarungen sind manchmal unscharf. Es entstehen moralische Grauzonen wie die an der Ampel in der Nacht. Es geht nicht nur um das, was man darf oder nicht. Sondern auch um das, was man doch immer tun oder eben vermeiden wollte. Überzeugungen werden auf die Probe gestellt, es gibt praktisch keine Vorbilder. Wie anstrengend so ein Tag werden kann!
Der Morgen im Berliner Homeoffice läuft schleppend, die Produktivität geht gegen Null. Nach mehr als sechs Wochen daheim ist die anfängliche Ferienlagerstimmung verflogen. Keine Zigarette mit Kollegen, kein Schnack in der Teeküche hilft aus dem Tief. Die Gitarre steht griffbereit neben dem Schreibtisch. Zehn Minuten spielen - das könnte doch den Geist anregen! Oder ist das schon versteckte Prokrastination? Der innere Zweikampf dauert zehn Minuten, dann klingelt das Telefon. Eine Kollegin sucht Inspiration für ein Projekt, ihr fällt nichts ein im Homeoffice.
Ein anderer Kollege ist mal wieder nicht erreichbar, er jongliert die Kinder und die nächste Deadline. Zeit für mich, um eine Maschine Wäsche zu machen? Machen diejenigen mit Familie doch sicher ständig, darf ich als Kinderloser das nicht auch? Oder sollte ich gerade deshalb mehr arbeiten, um sie zu entlasten? Ich entscheide mich für eine Ladung bei 60 Grad.
Mit dem Schleudergang setzen die Zweifel ein, wie so oft zuletzt. Einige Bekannte haben wegen der Krise schon ihre Jobs verloren, jemand, mit dem man mal zusammengearbeitet hat, liegt mit Covid-19 im Krankenhaus. Familien mit Kindern wissen nicht, wie sie Arbeit und Privatleben zusammenbringen sollen. Manche Freunde fahren immer noch jeden Tag zur Arbeit mit der Sorge, sich anzustecken. Wer bin ich, da schlechte Laune zu haben, weil am Wochenende kein Fußball läuft, alles, was Spaß macht, im Kalender durchgestrichen ist und die Abende manchmal langweilig sind? Ich weiß um all meine Privilegien, ich bin dankbar dafür. Schlechte Laune habe ich trotzdem.
Christian Vooren
Redakteur im Ressort Politik, Wirtschaft, Gesellschaft von ZEIT ONLINE
So unkontrolliert wie meine Konzentration wächst sich auch das aus, was mal ein Haarschnitt war. Sehnsüchtiger Anruf bei der Friseurin, ab Mai dürfen die ja wieder öffnen. Sie kann nichts zu Terminen sagen, wurde in der Krise entlassen. Aber zu Hause würde sie noch schneiden. Ihr hilft das, mir auch. Ist aber Schwarzarbeit und medizinisch zweifelhaft. Andererseits: Ob es im Friseursalon so viel sicherer wäre? Überfordert verschiebe ich die Entscheidung.
Beim wichtigen Termin nächste Woche werde ich also wohl aussehen wie ein Buchsbaum. Das Treffen steht seit Monaten fest, ist in Hamburg und nicht durch eine Videokonferenz zu ersetzen. Ich freue mich auf die Abwechslung vom Schreibtisch, erinnere mich, dass Leute zu treffen etwas Schlechtes ist und höre auf, mich zu freuen. Buche einen Mietwagen, aus Angst, im Zug auf zu viele Leute zu treffen. Als Klimaschützer war ich auch schon mal besser. Wiegt das kurzfristig Richtige hier das langfristig Falsche auf?
Die Krise, das wird ja häufig erwähnt, betrifft alle Lebensbereiche. Und genauso tangiert sie auch gelernte Überzeugungen, die in anderen Zeiten leichter einzuhalten waren. Klimaschutz, nachhaltig und fair einkaufen zum Beispiel, solidarisch sein mit anderen. Dazu steht nichts in den Verordnungen und Pandemieplänen. Und doch kommen Fragen auf. Statistisch steigt der Müllverbrauch pro Haushalt, Hamsterkäufe wurden nicht auf dem Wochenmarkt erledigt, sondern sind tendenziell eher Billigfleisch als Freilandrind und vor allem eingeschweißt. Manches ließ sich früher so leicht behaupten. Jetzt zeigt sich, wer es ernst meint. Das rüttelt auch am Selbstbild.