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„Man ist gar nichts" - Eine Französin spricht über häusliche Gewalt

Viele Frauen schweigen lieber als zu reden, wenn es um häusliche Gewalt geht. Foto: Valerie // Das lauernde Krokodil

Mit 19 Jahren lernte Delphine Girard ihren ersten Peiniger kennen. Er schlug sie, bedrohte sie mit einer Waffe, verfolgte sie nach der Trennung und vergewaltigte sie. Er ging dafür nicht ins Gefängnis. Das ist in Frankreich, wie in vielen anderen Ländern, noch immer eher die Regel als die Ausnahme. Wie erleben Opfer diese Verbrechen und die Arbeit der Justiz? Delphine Girard hat uns ihre Geschichte erzählt.

Von Carolin Küter, Lyon

Das alte Leben: „Guck mal, wo ich heute bin"


Es ist Sonntagnachmittag. Delphine Girard* sitzt in dem Studio, in dem sie unter der Woche als Kosmetikerin ihre Kunden empfängt. Aus dem Wohnhaus nebenan dringen die Stimmen spielender Kinder. Die 37-jährige zierliche Frau mit dem freundlichen, runden Gesicht, den schulterlangen, dunklen Haaren und dem Pony über der Brille lebt in einem Dorf in der Ardèche, einem ländlichen Département in Südostfrankreich, das für seine idyllische Landschaft aus Felsschluchten und Flussläufen bekannt ist. „Der Liebe wegen" sei sie vor acht Jahren hierhergekommen, sagt sie. Sie wohnt mit ihrem Lebensgefährten, dessen Sohn und ihrer Tochter in einem Einfamilienhaus mit Veranda und Garten: ihr neues Leben.


Ihre Vergangenheit hat sie auf dem Schoß. Ein Stapel Akten mit ärztlichen Bescheinigungen, Gerichtsdokumenten, Zeitungsartikeln, Liebesbriefen. „Zwölf Jahre Scheißleben", sagt sie und lacht dabei wie jemand, dem eine kleine Dummheit passiert ist. Sie blättert in den Dokumenten, als würde sie ein Fotoalbum aus ihrer Kindheit in den Händen halten und sich an vergessene Momente erinnern. „Da, sehen Sie, da hatte ich ein Hämatom." Sie zieht ein Attest aus dem Stapel: „Bluterguss an der Stirn und Kratzer an der Schulter" steht da. Oft beschäftige sie sich nicht mit ihrer Vergangenheit. Girard erzählt: „Manchmal blättere ich in den Akten. Ich weiß auch nicht genau warum, vielleicht um mir zu sagen, da komme ich her, aber guck mal, wo ich heute bin."


Der erste Schlag: „Mein Gedächtnis will sich nicht erinnern"


Sie war 19 Jahre alt als sie den ersten Mann kennenlernte, der sie schlug. Die junge Frau zog von ihren Eltern aus der ländlichen Umgebung in die Mittelmeerstadt Montpellier, um eine duale Ausbildung als Verwaltungsassistentin zu machen. Zwei Monate später war sie verliebt: in einen Koch, ehemaliger Boxer, ein paar Jahre älter als sie, ein großer Charmeur. „Wir sind schnell zusammengezogen, im ersten Jahr war alles schön, rosarot eben", sagt Girard.


Irgendwann ist er gewalttätig geworden, warf sie zu Boden, ohrfeigte sie. „Einmal hat er mich gepackt, festgehalten und mir einen Schraubenzieher vors Gesicht gehalten." Was sie gefühlt hat als er sie das erste Mal schlug, wisse sie nicht mehr, meint Girard. „Ich kann mich nicht erinnern oder mein Gedächtnis will sich nicht erinnern. Das ist etwa 18 Jahre her. Seitdem sind so viele Dinge passiert. Ich habe noch viel schlimmere Gewalt erlebt - ich war im Krankenhaus, bin fast gestorben."


Nachdem sie ihn verließ, wollte er sie über zwei Jahre lang nicht loslassen, verfolgte sie, rief bis zu 400 Mal am Tag an. Schließlich vergewaltigte er sie: „Er sagte, ich muss dich sehen, wir müssen reden, danach lasse ich dich in Ruhe. Ich habe ihm geglaubt. Habe mir gesagt, jetzt können wir die Sache beenden, uns beruhigen, er wird verstehen, dass ich ihn nicht mehr liebe. Aber das war nicht der Fall. Er hat mich bei sich eingesperrt und da ist die Vergewaltigung passiert. An das genaue Datum kann ich mich nicht mehr erinnern."


Die Unterwerfung: „Man ist gar nichts"


Insgesamt war sie drei Jahre mit ihm zusammen. „Drei Jahre Jo-Jo", so Girard: „Manchmal habe ich ihn verlassen und es geschafft, monatelang nicht zurückzukehren." Warum ist sie überhaupt geblieben? „Man kann das nicht erklären", sagt sie und versucht es dann doch: „Ich habe viele Artikel darüber gelesen und sieben Jahre Therapie gemacht. Sie machen uns von sich abhängig, lassen uns glauben, dass wir nur mit ihnen glücklich sind. Ohne sie fühlt man sich ganz weit unten, so wie Scheiße, das ist das richtige Wort." Als sie ihn kennenlernte, hatte sie Probleme mit ihren Eltern. Diese Schwäche habe gereicht, um sie in die Arme eines Narzissten zu treiben, sagt sie im Nachhinein.


„Sie krempeln unser Gehirn um. Sie kennen unsere Schwächen besser als wir selbst. Sie schaffen es, uns zu isolieren. Als Jugendliche hatte ich viele Freunde. Nach sechs, sieben Monaten mit ihm keinen einzigen mehr." Nach außen hin waren beide Peiniger höflich, lieb, zuckersüß, erzählt Girard mit Verachtung in der Stimme. Geschlagen wurde sie nur da, wo man es nicht sieht - am Kopf, Armen oder Beinen. Nie im Gesicht. Sie erzählte niemandem davon. „Ich hatte Angst, dass man mir nicht glaubt, sagt, dass ich alles erfinde oder nicht anders verdiene, weil ich ja hätte gehen können." Die Einsamkeit war wie ein Gefängnis, das die Abhängigkeit noch vergrößerte. „Man ist wirklich alleine. Man kapselt sich von der Außenwelt ab und erleidet das Leben nur noch. Manchmal hat er mich eingeschlossen, mir die Autoschlüssel weggenommen, sodass ich nicht wegfahren konnte. Man denkt nicht mehr nach. Man ist Opfer. Man ist gar nichts."


Die Waffe: „Wenn der Tod kommt, muss man seine Beine in die Hand nehmen"


Irgendwann kam der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab: „Eines Abends kam er mit einer Waffe an, die er mir an den Kopf hielt. In dem Moment wusste ich, ich muss mich wehren, sonst werde ich sterben. Wenn der Tod kommt, muss man seine Beine in die Hand nehmen und einfach abhauen." Also schrie sie. Eine Freundin, die nebenan wohnte, rief die Polizei. Er floh. Die Beamten eskortierten sie zu ihren Eltern, die etwa eine halbe Stunde entfernt wohnten. Am nächsten Tag ging sie auf die Wache und erstattete Anzeige. „Der Groschen war gefallen. Für mich war klar, ich muss auspacken und ihn ins Gefängnis bringen. Ich war im Schockzustand. Ich wusste, ich kann jeden Tag sterben, wenn ich ihn zufällig auf der Straße treffe."


Der „Zombiemodus": „Ich heule, wenn ich zu Hause bin"


Die darauffolgenden Monate verbrachte sie im „Zombiemodus", sagt sie. Es dauerte mehr als zwei Jahre bis zur Verurteilung ihres Peinigers. In dieser Zeit erhielt sie von ihm Morddrohungen. Er drohte, ihr Gesicht mit Salzsäure zu übergießen, verfolgte sie auf dem Weg zur Arbeit, stellte ihr bei ihren Eltern nach, kletterte auf den Balkon im zweiten Stockwerk. Dann wieder schrieb er Liebesbriefe und sagte, er würde sich umbringen, sollte sie nicht zu ihm zurückkehren. Einmal ritzte er sich den Arm auf und schmierte sein Blut auf die weiße Eingangstür zur Firma, in der sie arbeitete. Da sei sie das einzige Mal in der Öffentlichkeit zusammengebrochen, erzählt sie.


Ansonsten hielt sie sich mit Medikamenten aufrecht, zwang sich dazu, jeden Morgen aufzustehen, zur Arbeit zu fahren, ein Lächeln aufzusetzen. „Auf der Arbeit zu heulen bringt mich auch nicht weiter, da verliere ich nur meinen Job. Ich heule, wenn ich zu Hause bin. Ich heule, wenn ich bei der Polizei bin." Dort hinzugehen wurde zur Gewohnheit. Bei jeder neuen Morddrohung, jedem Telefonanruf, jedes Mal, wenn er ihr nachstellte, erstattete sie Anzeige. Ihren Eltern erzählte sie nur das Nötigste, auch Freunde weihte sie nicht ein. „Ich glaube, ich habe mich geschämt." Die Reaktionen auf Berichte anderer Opfer im Internet schreckten sie ab. „Die Leute verurteilen einen, sagen, wenn sie früher gegangen wäre, wäre sie nicht tot, dann hätte sie das alles nicht erlebt. Vielleicht habe ich mir unterbewusst gesagt, je weniger ich darüber rede, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mir auch so etwas anhören muss." Heute sage man ihr oft, dass sie stark sei. Dabei denkt sie sich: „Das kann ich nicht mehr hören. Das ist nicht Stärke. Das ist Überlebenswillen. Man hat keine Wahl. Das Leben lässt einem keine Wahl. Entweder ich erstatte Anzeige oder ich sterbe."


Der zweite Fall: „Nie wieder schlägt mich jemand"


Mit Mitte 20 verliebt sie sich erneut. „Wir wollten bald ein Kind kriegen. Als ich schwanger wurde, kamen die ersten Schläge. Ich habe sofort meine Sachen gepackt und bin gegangen. Durch meine Therapien war mir klar: Nie wieder schlägt mich jemand." Sie erstatte Anzeige, zog aus der gemeinsamen Wohnung aus, lebte abwechselnd bei ihren Eltern und einer Freundin. Kurz nach der Geburt des Kindes schlug ihr Ex-Freund sie, als sie im Krankenhaus bei ihrer Tochter war. Er kam in die Klinik, da er einen Brief erhalten hatte, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass sie das alleinige Sorgerecht beantragt hatte. „Er hat mir ein Schädeltrauma zugefügt." Das Krankenhauspersonal griff zunächst nicht ein, weil sie beim Angriff keiner beobachtet hatte. Verhaftet wurde er, trotz ihrer Anzeige, nicht. 


Es stand Aussage gegen Aussage. Auch die gemeinsame Tochter konnte er weiterhin sehen: „Die Jugendrichter haben entschieden, dass ein gewalttätiger Partner trotzdem ein guter Vater sein kann." In der Zwischenzeit lernte er eine andere Frau kennen, die er ebenfalls misshandelte, so Girard: „Er hat sie vor den Augen meiner Tochter über den Boden geschleift." Als das Kind ein Jahr alt war, schlug er auch sie. Girard forderte erneut das alleinige Sorgerecht. Es dauerte Monate bis der „Erzeuger" ihrer Tochter, wie Girard ihn nennt, sein Kind nur noch unter Aufsicht sehen konnte. Irgendwann verlor er das Interesse daran. Viereinhalb Jahre nach der Geburt des Kindes erhielt sie schließlich das alleinige Sorgerecht.


Die Justiz: „Gerechtigkeit, die gibt es nicht"


Im Gefängnis sitzt der „Erzeuger" nicht. Er erhielt eine Haftstrafe von acht Monaten auf Bewährung für wiederholte Gewalttaten und Todesdrohungen. Girards erster Peiniger wurde aus den gleichen Gründen zu sechs Monaten Gefängnis und 8.000 Euro Schadensersatz verurteilt. Das Geld hat sie aus Angst vor ihm nie eingefordert. Die Haftstrafe musste er nicht antreten. „Es gibt nicht ausreichend Plätze in den Gefängnissen", sagt sie. Auch eine Anzeige wegen der Vergewaltigung zog sie „aus Angst vor Repressalien" zurück. Mittlerweile sitzt er für die Vergewaltigung einer anderen Frau ein.


Geholfen hat ihr - neben der Polizei - auch die Beratungsstelle CIDFF, die über eine Notfallnummer rund um die Uhr zu erreichen ist. Über die Organisation bekam sie kostenlose juristische und psychologische Hilfe. „Diese Organisation hat mich gerettet." Dennoch würden Opfer nicht ausreichend geschützt, sagt sie. „Die Betreuung ist gut, aber die Gesetze werden nicht angewandt. Man sagt uns, dass wir Anzeige erstatten sollen. Aber manchmal dauert es drei, vier Jahre bis es ein Urteil gibt. Während dieser Zeit bleibt man Opfer, wird bedroht. Die Betreuung ist da, aber Gerechtigkeit, die gibt es nicht."


*Girard hat eigentlich einen anderen Nachnamen. Sie möchte nicht, dass ihre komplette Identität bekannt wird, da sie Angst hat, dass ihre Ex-Freunde einen Artikel zum Anlass nehmen, sie wieder zu verfolgen.


Häusliche Gewalt in Frankreich


123 Frauen wurden 2016 von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Das bedeutet rechnerisch eine Tote alle drei Tage. Es gab 34 männliche Tote. Zum Vergleich: In Deutschland starben 2016 149 Frauen und 15 Männer durch häusliche Gewalt.

Rund 240.000 Frauen jährlich geben an, körperliche und / oder sexuelle Gewalt durch den Partner oder Ex-Partner erlebt zu haben. Diese Zahl bezieht sich auf die Jahre 2012 bis 2016. Das sind ein Prozent der in Frankreich lebenden Frauen im Alter zwischen 18 und 75 Jahren.

Mehr als zwei Drittel der Opfer häuslicher Gewalt sind weiblich. Insgesamt sind jährlich rund 364.000 Menschen betroffen. Zum Vergleich: 2016 waren in Deutschland mehr als 80 Prozent der Opfer Frauen.

Bei einer von drei Vergewaltigungen ist der Täter der Partner oder Ex-Partner. So auch in 70 Prozent der polizeibekannten Fälle von Gewalt gegen Frauen im Alter von 20 bis 50 Jahren.

Durchschnittlich 13 Prozent der Opfer erstatten Anzeige. Über die Hälfte hat 2016 laut anonymen Befragungen gar keine Hilfe gesucht, weder bei Ärzten, Polizei oder Beratungsorganisationen.

Bei weniger als zehn Prozent der angezeigten Fälle häuslicher Gewalt kommt es zu einer Verurteilung. 17.600 Täter wurden 2016 bestraft. 96 Prozent davon waren Männer.

Quellen: Polizei-Statistik, Staatssekretariat für Gleichstellung und Innenministerium Frankreich, Bundeskriminalamt
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