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Syrien: Eine Datenbank voller Unmenschlichkeiten

Ein Mann betet auf dem Friedhof der syrischen Stadt Chan Scheichun: Mehr als 80 Menschen starben dort nach einem Giftgasangriff im April. Foto: OMAR HAJ KADOUR (AFP)

Ob die Menschenrechtsverbrechen im Syrienkrieg jemals geahndet werden, ist offen. Eine UN-Gruppe sammelt trotzdem Beweise.

Von Carolin Henkenberens

Das Vorhaben scheint zum Scheitern verurteilt. Zu groß ist die Uneinigkeit auf internationaler Ebene, zu viele ähnliche Versuche sind schon ins Leere gelaufen. Doch sie will es versuchen. Catherine Marchi-Uhel ist 54 Jahre alt, hat kurze, braune Haare und ein zurückhaltendes Lächeln. Sie will die Kriegsverbrecher aus Syrien zur Rechenschaft ziehen.

Nach sechs Jahren Krieg gibt es Terabytes an Dokumenten, Videos, Daten. Doch welche Taten können Personen zugeordnet werden? Während in Genf bei Friedensgesprächen in dieser Woche diskutiert wird, ob Baschar al-Assad abtreten und Einfluss an die nicht weniger brutalen Oppositionsgruppen abgeben soll, stellt sich auch die Frage: wie umgehen mit den massenhaften Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Bislang hat die internationale Gemeinschaft darauf keine Antwort gefunden. Erst kürzlich blockierte Russland weitere Ermittlungen über Giftgasangriffe des syrischen Militärs auf Zivilisten. Im Sommer trat die UN-Sonderermittlerin Carla Del Ponte nach fünf Jahren entnervt zurück. Begründung: Der Sicherheitsrat sei nicht an Gerechtigkeit interessiert. Sie sei nur „Alibi-Ermittlerin".

Internationaler Strafgerichtshof ist lahmgelegt

Doch seit Juli leitet die Französin Catherine Marchi-Uhel eine neue Ermittlergruppe der Vereinten Nationen. Ihre Aufgabe ist es, vor Gericht verwendbare Beweise gegen Täter zu sammeln und Anklageschriften vorzubereiten. Das wäre eigentlich Sache der Ermittler des Internationalen Strafgerichtshofs. Doch der kann nicht aktiv werden. Schon 2014 verhinderten China und Russland, dass der Strafgerichtshof angerufen wird. Für ein internationales Sondertribunal wie für Ruanda oder Ex-Jugoslawien fehlt ebenfalls Einigkeit.

„Die Zeit drängt", sagt Marchi-Uhel. „Je mehr Zeit vergeht, desto mehr Beweise verschwinden." Zeugen sterben oder wollen nicht mehr reden. Dokumente würden beiseitegeschafft: „Mit unserer Arbeit gewinnen wir Zeit. Das, was wir machen, müsste der Strafgerichtshof ohnehin tun."

Auch nationale Gerichte können aktiv werden

Um die Lähmung der internationalen Gemeinschaft zu umgehen, bedienten sich die UN eines Tricks. Über die Generalversammlung schufen die Mitgliedsstaaten den „internationalen, unparteiischen und unabhängigen Mechanismus" (IIIM). Eine Notlösung in Zeiten maximaler Blockade.

Große Hoffnungen setzt Marchi-Uhel in nationale Gerichte. In Deutschland, aber auch in der Schweiz, Schweden, den Niederlanden und Spanien gebe es Versuche, Anzeigen gegen syrische Kriegsverbrecher zu verfolgen. Nach dem Weltrechtsprinzip können besonders schwere Verbrechen auch vor nationalen Gerichten verurteilt werden, wenn sie so grausam sind, dass sie die ganze Welt angehen und nirgendwo anders verfolgt werden. In Deutschland hat die Bundesanwaltschaft schon syrische Folteropfer als Zeugen vernommen, die Anzeigen gegen Regimemitglieder erstattet haben.

„Wer hätte gedacht, dass Pinochet nach London kommt"

Doch damit die Straftäter vor Gericht kommen können, müssen sie ausgeliefert werden oder zufällig einreisen. Beides ist früher schon geschehen. „Wer hätte gedacht, dass Pinochet einmal nach London kommt", macht sich Wolfgang Kaleck Hoffnung. Er ist einer jener Juristen, die syrische Opfer in Deutschland unterstützen. „Und wenn es Jahre dauert", ist er überzeugt, „diese Leute werden irgendwann reisen."

Und wenn nicht? Wie optimistisch muss jemand sein, der Beweise sammelt und Anklagen formuliert, in der bloßen Hoffnung, dass sie verwendet werden? „Ich wäre nicht so optimistisch, wenn es keine Aussicht auf Erfolg gäbe“, sagt Catherine Marchi-Uhel. Sie arbeitete schon bei den Tribunalen für Kambodscha und das ehemalige Jugoslawien. Das Recht sei wohl mittlerweile Bestandteil ihrer Gene, sagt sie und lacht. Sie habe so viel Fortschritt bei der Ahndung von schweren Verbrechen erlebt. Genau deshalb sei sie aber fassungslos darüber, dass das internationale Strafrecht im Fall Syriens bisher versagt habe: „Ich hoffe, dass wir über die Verbrechen in Syrien irgendwann so sprechen wie über die im Kosovo.“

Berlin stützt die Ermittlungen

Das wird ein langer, schwieriger Weg. Die inhaltliche Arbeit hat der IIIM noch nicht aufnehmen können. Zunächst einmal musste Marchi-Uhel ihr Team zusammenstellen. Langfristig sollen beim IIIM 60 Juristen, Ermittler, aber auch IT-Spezialisten angestellt sein. Auch stand viel Klinkenputzen auf dem Programm in den ersten Wochen: Marchi-Uhel wirbt bei Nichtregierungsorganisationen, aber auch Staaten darum, dass sie ihre Informationen mit den IIIM-Ermittlern teilen. „Wir wollen auch in Syrien arbeiten“, sagt Marchi-Uhel. Bislang steht die Erlaubnis der syrischen Behörden noch aus. Die wichtigste Quelle für mögliche Beweise soll die Arbeit einer anderen UN-Kommission sein: der „Commission of Inquiry on Syria“. Die dokumentiert seit 2011 Gräueltaten im syrischen Bürgerkrieg.

Die Bundesregierung unterstützte den IIIM bislang mit einer Million Euro. Die Finanzierung war zunächst so fraglich, dass sogar eine Crowdfunding-Kampagne im Internet Geld sammelte. Doch demotivieren lässt sich Marchi-Uhel nicht. „Ich sehe nicht“, sagt sie, „dass der IIIM zu etwas führt, auf das man nicht stolz sein könnte.“

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