Wo bleibt das Ablenkungsmanöver? Längst sollte an diesem sonnigen Samstagmittag eine bunte Menge auf dem Leipziger Platz in Berlin Mitte Parolen über Klimaschutz skandieren. Selbst die angerückten Staatsdiener scheinen etwas verwundert über den geringen Zulauf. Mehrere Mannschaftswagen sind vor Ort und etwa siebzig Polizisten. Einige von ihnen haben sich in Zivil unter die Bummler gemischt. Der Knopf im Ohr und der bohrende Türsteherblick verraten sie, den Familienvater-im-Kurzurlaub-Verkleidungen zum Trotz. Ein Riesenaufgebot, scheinbar für nichts. "Die Polizisten haben mich irgendwann gefragt, ob das wirklich alles ist", lacht Mitorganisatorin Annemarie Botzki im Nachhinein.
Ist es nicht. Die angemeldete Versammlung sollte die Polizei lediglich beschäftigen. Die Polizei und den Sicherheitsdienst des großen Einkaufszentrums nebenan. Dort findet die eigentliche Protestaktion gegen klimaschädlichen Konsum statt, ungeachtet rechtlicher Normen wie der Anmeldepflicht für Versammlungen. Ziviler Ungehorsam ist das zentrale Mittel der Aktivistengruppe Extinction Rebellion. Mit medienwirksamen Protesten lief die neue Bewegung aus Großbritannien im Herbst an, um effektiven und sozial gerechten Klimaschutz von der Politik zu erkämpfen. Friedlich, aber keinesfalls schmerzfrei. Extinction Rebellion will durch "symbolische kriminelle Aktionen" wie Straßenblockaden oder Hausfriedensbruch Druck auf Entscheidungsträger ausüben, nicht nur in England. Weltweit agieren Ortsgruppen unter ihrer Flagge.
Die Berliner Extinction Rebellion hat über Wochen an dem Plan für die Protestaktion im Einkaufszentrum am Leipziger Platz gefeilt. Zuerst im Chat der zuständigen Arbeitsgruppe, dann auf einem Plenum und schließlich bei einem Briefing. Jeder Interessierte war eingeladen, am Nachmittag vor der Aktion an dem Briefing im Kreuzberger Mehringhof teilzunehmen. Treffpunkt für XR, wie Zugehörige die Extinction Rebellion online oft abkürzen, ist an jenem Nachmittag der zweite Hof, am Hauseingang gegenüber dem "Verein der Arbeiter aus der Türkei Berlin". Die roten Backsteingebäude des alternativen Kulturzentrums beherbergen heute viele linke Einrichtungen: Ein Theater, ein Buchladen und die Punkkneipe "Clash", zu der nur Zutritt erhält, wer keine erkennbare Staatsflagge trägt. Zum Überkleben liegt am Eingang jederzeit eine Rolle schwarzes Tape parat.
Es ist ungewöhnlich warm für einen Apriltag, über zwanzig Grad. Als wolle das Klima seine Retter noch einmal in ihrer Mission bestärken. Hal Zabin würde an dieser Stelle freundlich aber bestimmt anmerken, dass Wetter und Klima nicht dasselbe sind. Dr. Hal Zabin ist der Erste, der zur Besprechung im Mehringhof eintrifft. Der drahtige Mann Ende fünfzig trägt eine leichte Jacke über seinem grauen T-Shirt, dazu bequeme Jeans. Trotz seiner geringen Körpergröße strahlt er die besonnene Autorität eines Lieblingslehrers aus. Als promovierter Biochemiker hat er nichts für Sentimentalität übrig. "Hoffnung ist gar nicht so wichtig", sagt er lächelnd, "weil ich die Fakten kenne." Jetzt ginge es darum, zu verhindern, was nachweislich noch zu verhindern ist.
Laut eines Sonderberichts des Weltklimarates IPCC ist das eine Erderwärmung von über 1,5 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts. Die Veröffentlichung des Berichts im Oktober lieferte den perfekten Hintergrund für den Start von Extinction Rebellion. Für Annemarie Botzki war er ein entscheidender Anstoß, sich der Bewegung anzuschließen. Sie muss sich erst kurz sortieren, bevor sie Zabin im Mehringhof begrüßen kann. Zusammengerollte Papiere ragen aus ihrer großen Tasche hervor, Benachrichtigungen stapeln sich auf ihrem Handy-Display. "Ich habe mich schon vorher engagiert", erzählt sie über ihren Werdegang, "ich war mit Gruppen wie 'Ende Gelände!' unterwegs und habe als Klimareporterin aus Brüssel berichtet." Noch heute findet sich Botzkis Vortrag über das Pariser Klimaabkommen von 2005 auf YouTube, genau wie einer ihrer Sparrings für die "Brussels Boxing Academy". Hilflosigkeit sieht eigentlich anders aus. "Aber ich habe mich so ohnmächtig gefühlt", führt sie fort, " gegenüber dieser globalen Katastrophe, gegen die sonst niemand etwas zu unternehmen schien. Bis ich gesehen habe, was Extinction Rebellion in London auf die Beine gestellt hat."
Hunderte Menschen nahmen am 31. Oktober an der "Rebellionserklärung" gegen die Regierung vor dem britischen Parlamentssitz teil. Auch die prominente Jungaktivistin Greta Thunberg war bei dem offiziellen Start der Extinction Rebellion zugegen. Anschließend blockierten Teilnehmer demonstrativ Teile des Straßenverkehrs, einige von ihnen wurden verhaftet - Erfolg auf ganzer Linie. Von der Staatsgewalt vor möglichst großem Publikum abgeführt zu werden, gehört bei Extinction Rebellion zur Rekrutierungsstrategie. "Dass sich die Leute für ihre Prinzipien sogar verhaften lassen, hat mich total beeindruckt", erinnert sich Botzki.
Um die Wartezeit zu überbrücken, geht sie für ein Bier kurz zum Kiosk um die Ecke. Immer mehr Briefing-Teilnehmer finden sich nach und nach im Mehringhof ein. Etwa dreißig sind es nach einer knappen Stunde. Botzki ist sichtlich zufrieden mit dem Zulauf, sie begrüßt viele Neuankömmlinge persönlich. "Dass in so kurzer Zeit wirklich so viele Leute mitmachen, freut uns natürlich", sagt sie nach kurzer Überlegung, "aber es ist nicht so, dass wir total überrascht sind". Dahinter steckt keine falsche Bescheidenheit, sondern die Gewissheit, dass ein Plan aufgeht. Extinction Rebellion ist keine spontane Bürgerbewegung, die sich verselbstständigt hat. Das Chaos, das sie mit ihren Protestaktionen stiftet, ist am Reißbrett entworfen.
"Massenpartizipation und ziviler Ungehorsam maximieren die Erfolgschance von sozialem Wandel" erklärt XR-Mitbegründer Roger Hallam gegenüber der BBC. Seit Jahren forscht Hallam am King's College London zu effektiven Methoden politischer Kampagnen. Er gehört zu dem kleinen Kreis aus erfahrenen, hochgebildeten und gut vernetzten Aktivisten, die den Plan für Extinction Rebellion Anfang 2018 entworfen haben. Bereits Monate vor der Rebellionserklärung im Oktober tourten sie mit einem Vortrag durch Gemeindezentren, um genügend Mitstreiter für den angesetzten Aufstand zu gewinnen. "Der Vortrag von Dr. Gail Bradbrook ist quasi das Fundament von Extinction Rebellion", sagt Botzki, "dadurch erfährt man genau, was dahinter steckt." Eine Videoversion des Originals ist seit September im Netz zu sehen, inzwischen gibt es auch eine deutsche Variante.
In Grüppchen tauschen sich die Berliner Rebellen im Mehringhof inzwischen aufgeregt über die morgige Aktion aus. Die Szene erinnert ein wenig an einen Schulhof nach einer Klassenarbeit, auch, weil einige der Anwesenden tatsächlich noch zur Schule gehen. "Meine Eltern finden es gut, dass ich mich für die Umwelt einsetze", erzählt Tommy, "nur in Prüfungsphasen sind sie nicht so begeistert davon". Verlegen macht ihn das nicht, im Gegenteil. Er macht keine Anstalten, seinen Stolz zu verbergen, schon gar nicht seinen Elan. Nach einer angeregten Debatte kann er zwei Gleichaltrige überzeugen, dass es schon mehr Eindruck macht, sich mit Sekundenkleber an ein Gebäude zu kleben, statt sich nur daran fest zu binden.
"Ich fühle mich auf jeden Fall für die Leute verantwortlich", sagt Annemarie Botzki. Der Spagat zwischen Sicherheit und Aktionismus mancher Unterstützer sei zugegebenermaßen schwierig. Andererseits sei es gerade im Sinne der Sicherheit, so viele Leute wie möglich zum Mitmachen zu ermutigen, um eine "kritische Masse" zu erreichen. "Mit fünf Leuten eine Straße zu blockieren ist sehr gefährlich, mit fünfhundert Leuten ist es schon besser. Aber siemüssen eben eingewiesen werden. Jemand muss sich um sie kümmern, zum Beispiel das 'Legal Team'."
Das Legal Team klärt rechtliche Fragen für Teilnehmer der Extinction Rebellion. Es achtet darauf, dass sie nur gegen die Gesetze verstoßen, gegen die sie auch verstoßen wollen. "Es geht darum, so gut es geht aufzuklären und vorzubereiten", fasst Holger Partikel vom Berliner Legal Team zusammen, "jeder soll wissen, worauf er sich einlässt." Anwalt ist er nicht und auch sonst nicht rechtswissenschaftlich ausgebildet. Für seine Arbeit im Legal Team mache er sich fallbezogen schlau und ziehe Rechtsexperten zu Rate, erklärt Partikel.
Der stämmige Mann Mitte vierzig trägt ein buntes Shirt und eine Umhängetasche. Er kramt einen Moment darin und präsentiert stolz ein silbergraues Plastikgerät, das an eine Stoppuhr erinnert. "Ist das für ein Signal zum Die-in in der Mall morgen?", fragt ihn Zabin. Bei einem "Die-in" stellen sich Aktivisten an symbolischen Orten auf ein Zeichen hin gruppenweise tot, um auf lebensbedrohliches Unrecht aufmerksam zu machen. Mit einem süffisanten Lächeln betätigt Partikel einen Knopf an dem mysteriösen Gerät, um Zabins Frage zu beantworten. Ein konstanter, enorm schriller Ton lässt alle Umstehenden zusammenzucken. Nur mit Mühe bringt Partikel den Schlüsselalarm wieder zum Schweigen.
Um kurz nach Fünf fordert Annemarie Botzki alle im Hof auf, sich zum Versammlungsraum des Mehringhoftheaters zu begeben. Die Bezeichnung hat er kaum verdient. Er wirkt eher wie ein Grundschulklassenzimmer. Vier Tische stehen in der Mitte zusammen und improvisieren einen großen Konferenztisch. Am Ende des Raumes sind Stühle gestapelt, links und rechts stehen schmale Schränke. Auf der gegenüberliegenden Seite, neben der Eingangstür, hängt eine große Kreidetafel an der Wand. Die letzte Lektion eines Deutschkurses ist darauf noch zu lesen: "Hast du den Sonnenhut eingepackt?" "Ja ich habe ihn eingepackt." Die Worte "den" und "ihn" sind unterstrichen, es geht um den Akkusativ.
Es dauert einen Moment, bis alle sich in den kleinen Raum gezwängt haben. Einige setzen sich an die Tische in der Raummitte, andere nehmen auf den Stühlen hinten Platz. Manchen reicht es, auf dem Boden zu sitzen oder sich an eine der Wände zu lehen. Mateo Durán eröffnet das Briefing, indem er alle an das Ziel der Aktion erinnert. "Wir wollen Verwirrung stiften und den Alltag stören", erklärt der schlaksige junge Mann Anfang zwanzig, "weil Konsum nicht normal ist." Er lässt seine Schultern locker hängen, lehnt sich im Stand überwiegend auf ein Bein. Mit den Händen auf den Hüften wirkt er wie ein siegessicherer Fußballtrainer bei der Kabinenansprache.
Damit morgen alles glatt läuft, sollen alle Aktionsteilnehmer den Plan der Arbeitsgruppe final abnehmen: Um 13:45 Uhr startet die angemeldete Versammlung auf der Rasenfläche des Leipziger Platzes. Während Polizei und Sicherheitsdienst sich darauf konzentrieren, sollen sich Eingeweihte in kleinen Gruppen unauffällig in die Mall begeben. "Treffpunkt ist die Piazza", sagt Durán und deutet auf die entsprechende Stelle eines Centerplans. Solche Karten im Broschürenformat liegen für Kunden an den Eingängen des Einkaufszentrums aus. "Piazza" nennt der Betreiber die kleine überdachte Fußgängerzone zwischen den zwei Gebäuden der Mall. "Um 14:20 Uhr geht's richtig los", kündigt Durán an.
Während der Centerplan herumgereicht wird, will er zu den restlichen Programmpunkten übergehen: "Wir müssen noch ein paar Rollen verteilen." Gemeint sind kleine Gruppen, die für den Protest besondere Aufgaben übernehmen. Das Deeskalationsteam soll zum Beispiel den Kontakt zu eintreffendem Sicherheitspersonal suchen und es so lange wie möglich daran hindern, einzuschreiten. Eine andere Gruppe ist für den Einsatz von Material wie Banner und Flyer zuständig. Aber die Einteilung verläuft schleppend. Nicht, weil niemand gewillt ist, die Aufgaben zu übernehmen. "Ich würde bei der Deeskalation mitmachen", erklärt eine junge Frau aus den hinteren Stuhlreihen mit dunklen, lockigen Haaren, "aber wie wäre es, wenn wir dabei noch Slogans hochhalten würden?"
Kaum jemand lässt die Gelegenheit einer Wortmeldung aus, eine neue Komponente für den Protest vorzuschlagen. Statt sich endgültig auf den Plan der Arbeitsgruppe zu einigen, kommen immer wieder neue Ideen hinzu: ein Kostüm aus Einkaufstüten, beschriftete T-Shirts, blutrot gefärbte Hände.
"Ok, das hat jetzt keinen Zweck mehr", unterbricht Durán nach etwa zwei Stunden das summende Gemurmel der Aktivisten im Versammlungsraum. "Lasst uns jetzt runter gehen und anfangen, Banner zu malen. Der Rest wird sich morgen klären." Es ist die Schattenseite des organisierten Chaos, das zum Konzept von Extinction Rebellion gehört. Im Sinne von Hallams Ziel der Massenpartizipation ist der Zugang zur Bewegung so barrierefrei wie möglich gestaltet. "Jeder kann kommen und jeder kann mitmachen", bestätigt Botzke, "solange man sich an unsere zehn Werte hält, kann auch jeder als Extinction Rebellion Aktionen durchführen."
Anders als Organisationen wie Greenpeace ist Extinction Rebellion in Deutschland kein eingetragener Verein. Streng genommen hat XR also keine Mitglieder, verfügt als Gruppierung weder über entsprechende Rechte und Pflichten. Auf der deutschen Webseite ist lediglich das Unternehmen Compassionate Revolution Ltd als verantwortlich angegeben. Die britische Firma ist Träger des Aktivistennetzwerks "Rising Up!", dem auch Extinction Rebellion entsprungen ist. "Wir nutzen im Moment die bestehenden rechtlichen Strukturen aus Großbritannien, um uns abzusichern", erklärt Botzki, "sobald wir eigene rechtliche Strukturen haben werden wir das ändern."
Am nächsten Tag sieht es im Einkaufszentrum so aus, als würde sich die ungezwungene Organisation rächen. Die Ablenkung vor dem Eingang ist misslungen, weil die Versammlungsteilnehmer zu spät aufgetaucht sind. Viele der Aktivisten, die beim Briefing im Mehringhof dabei waren, haben sich trotzdem zum Treffpunkt auf der Piazza begeben.
Der rechteckige Platz hat in etwa die Größe eines olympischen Schwimmbeckens und wird von den beiden gegenüberstehenden Gebäuden der Mall eingerahmt. Zu den beiden anderen Seiten hin ist er offen. Bäckereien, Cafés und Souvenirläden bestimmen die Ladenzeilen im Erdgeschoss. Weiße Sitzkörbe mit passenden Tischen sollen Kunden in der Mitte der Piazza zur Pause bei Saft und Kaffee einladen. Übergänge rechts und links verbinden die jeweils gleichen oberen Stockwerke der zwei Gebäude.
Das gute Wetter hat die offene Piazza gefüllt. Es fällt nicht weiter auf, dass ein paar mehr Leute verweilen, statt von einer Ladenzeile zu nächsten zu wandern. Doch wer eingeweiht ist, spürt eine drückende Anspannung in der Luft. Ein paar XR-Aktivisten sitzen auf den Korbstühlen, viele stehen vor den Cafés und Läden ringsherum. Alle tauschen nervöse Blicke aus. Ein junger Mann, der sich zuvor bereit erklärt hat, Flyer regnen zu lassen, steht auf der Terrasse im zweiten Stock. Er umklammert krampfhaft den Träger des großen Rucksacks, den er an einer Schulter trägt. Leicht über die Brüstung gebeugt schaut er hinunter und hält Ausschau. Nach irgendetwas. Ist die Aktion abgebrochen worden? War alles umsonst?
Plötzlich singt Mick Jagger.
"I can't get no satisfaction!"
Ein Remix des konsumkritischen Songs der Rolling Stones knallt aus dem riesigen Lautsprecher, den Mateo Durán auf einem Lastenrad in die Mitte der Piazza schiebt. Eine Handvoll tanzender und jubelnder Aktivisten begleiten ihn. Das ist das Startsignal. Nach wenigen Sekunden strömen Aktivisten aus allen Winkeln der Piazza heran und schließen sich der kleinen Tanzgruppe an. Sie springen ausgelassen umher und jubeln zu der Musik. Manche von ihnen tragen T-Shirts mit aufgedruckten Slogans. Drei junge Frauen tragen die Parolen direkt auf der Haut ihrer nackten Oberkörper. Die Einwürfe aus den Wortmeldungen im Mehringhof haben doch noch einen Platz in der Aktion gefunden, als individuelle Komponenten eines großen Ganzen.
Nach kurzer Irritation amüsieren sich die umstehenden Passanten über den Trubel. Einige beginnen zu filmen oder im Takt der Musik zu klatschen. Doch dann verstummt die Musik. Statt Mick Jagger klingen Trauerglocken aus der Musikanlage. Offenbar etwas zu leise, denn nicht jeder Tanzwütige hört das Zeichen für den Die-in sofort. Aber ein paar Sekunden später ist auch der letzte von ihnen unter theatralischen Todesqualen zu Boden gesunken.
Während der junge Mann aus der zweiten Etage Flyer auf die Klimaleichen unter ihm regnen lässt, entrollen die anderen aus seinem Team Banner und befestigen sie an den Übergängen zwischen den Gebäuden. Auf einer der meterlangen Silberfolien steht längs in schwarzer Schrift "#XRBERLIN". Drei andere Banner sind in grünen Lettern mit je einem Wort der Botschaft "FASHION VICTIM EARTH" beschriftet. Mateo Durán präsentiert den gebannten Passanten indes die zentrale Botschaft des Flashmobs. "$HOPPN IS KEEN HOBB¥" steht auf dem violetten Tuch, das er hochhält.
Als das Sicherheitspersonal eintrifft, tritt das Deeskalationsteam in Aktion. Die ersten Sicherheitsleute können sie noch abfangen und in Gespräche verwickeln. Doch bald sind es zu viele. Sie steigen in großen Schritten über die immer noch auf dem Boden verstreuten Aktivisten hinweg und stellen Durán, der das violette Tucg sicherheitshalber wieder in seinem Rucksack verstaut. Andere Securitys sammeln die Banner von den Etagenübergängen ein.
Doch der Protest ist noch nicht vorrüber. Eine zierliche Frau erhebt sich als erste der scheintoten Aktivisten. Sie beugt sich über ihre Mitstreiter, hilft ihnen auf und fragt laut auf Englisch: "Wofür erhebst du dich?" Jeder von ihnen antwortet planmäßig mit seiner persönlichen Motivation. Wie genau die Antworten ausfallen, ist bei dem Lärm auf der Piazza nicht immer zu verstehen. Sobald die meisten Aktivisten wieder stehen, stimmen sie einen Chor an. Gemeinsam singen sie eine Version der Protesthymne "Bella Ciao".
Wie viele Aktivisten an dem Protest in der Mall teilgenommen haben, weiß niemand. Schon gar nicht Extinction Rebellion selbst. Die Polizei Berlin schätzt im Nachhinein, dass es um die vierzig gewesen sein müssen. Als sie singen, wirkt es fast, als wäre das geschäftige Treiben der Einkaufspassage mit einem Mal zum Stillstand gekommen. Trotz der offenen Zugänge lässt die Akustik der Piazza ihre Stimmen widerhallen wie die eines Kirchenchors: "We need to wake up, we need to rise up, we need to open our eyes and do it now, now, now!"
"Und was machen wir jetzt?" fragt eine junge Frau aus dem Sicherheitsteam ihren Kollegen. Beide können nicht viel älter sein als zwanzig. Sie stehen etwas abseits der singenden Gruppe. Der Kollege senkt das Funkgerät, das er in der Hand hält. "Erstmal nix", seufzt er achselzuckend. "Eigentlich haben die ja auch recht", fügt er nach einem kurzen Moment hinzu, "die Modeindustrie ist schon mies."