Die Parlamentswahl in Afghanistan werden massiv manipuliert - und sind dennoch ein Hoffnungszeichen.
Abdul Baqi Samander ist frustriert. "Diese Wahlen sind eine Karikatur", sagt der 67-jährige Kabuler, der zum ersten Mal im Leben für einen Sitz im afghanischen Unterhaus, der Wolesi Jirga, kandidiert. "Wer Geld hat, kauft sich Stimmen, wer kein Geld hat, so wie ich, hat kaum eine Chance." Für etwa 100 bis 200 Dollar, so Baqi, würden Mittelsmänner die Wahlkarten der einfachen Menschen aufkaufen, um sie nach der Wahl an die meistbietenden Kandidaten zu verschachern. "Die Mittelsmänner haben gute Kontakte zur Wahlkommission", sagt er. "Sie wissen, wie man bei der Auszählung den Prozess manipuliert. Etwa 400 Dollar bezahlen Kandidaten für eine gestempelte Wahlkarte."
Schlechte SicherheitslageAm kommenden Samstag wählt Afghanistan zum dritten Mal seit dem Sturz der Taliban 2001 sein Parlament. Angesichts der schlechten Sicherheitslage muss allein die Durchführung bereits als Erfolg gewertet werden. Eigentlich hätte der Urnengang bereits vor dreieinhalb Jahren stattfinden sollen. Doch immer wieder wurde er verschoben, weil Sicherheit und Stabilität ungenügend waren. Die Parlamentswahl gilt als wichtiger Vorlauf zur Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr. Viele Menschen geben der wackeligen Regierung von Präsident Ashraf Ghani und seinem Regierungschef Abdullah Abdullah die Schuld daran, dass sich die Sicherheitslage in den vergangenen Jahren verschlechtert hat.
Auch dieses Mal wieder haben die radikalislamischen Taliban-Milizen angekündigt, jeden anzugreifen, der die Wahlen unterstützt. Diese seien eine "amerikanische Verschwörung zur weiteren Rechtfertigung der ausländischen Besetzung" Afghanistans. In den vergangenen Monaten wurden bereits acht Kandidaten getötet. Zum schwersten Anschlag im Vorfeld der Wahlen, einem Attentat in der ostafghanischen Stadt Jalalabad Anfang Oktober, bekannte sich der Islamische Staat (IS); 13 Menschen kamen dabei ums Leben.
Die Unabhängige Wahlkommission (IEC) will deshalb am Wahltag mindestens 54 000 Soldaten zur Sicherung der 5100 Wahllokale einsetzen. Doch nicht nur die Wählerinnen und Wähler haben Angst um ihre Sicherheit - viele ausländische Wahlbeobachter schrecken davor zurück, nach Afghanistan zu reisen. Die Europäische Union etwa schickt nur ein dreiköpfiges Team, das am Wahltag das Büro nicht verlassen darf. Die rund 6500 lokalen Wahlbeobachter haben wiederholt angemahnt, dass die Regierung nicht genug zu ihrem Schutz unternehme.
Erkennungszeichen für AnalphabetenBaqi Samander ist entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. "Die Taliban haben unser Land ruiniert", sagt der ausgebildete Schriftsetzer, der 2001 nach dreissig Jahren aus dem Exil in Deutschland nach Afghanistan zurückgekehrt ist. "Ich will selbst etwas tun, um zu verhindern, dass es noch einmal so schlimm kommt." Samander hat in Heidelberg und Hamburg als Drucker gearbeitet und sich nach Ende des Krieges in Afghanistan am Wiederaufbau von Druckereien in Kabul beteiligt. Heute trägt er einen langen weissen Bart und eine bestickte rote Kappe auf dem Kopf, ein Zeichen der islamischen Mystiker, der Sufis. Er betreibt auf dem Land seiner Familie eine Schule für knapp 400 Strassenkinder. Doch für den Wahlkampf musste er sich Geld leihen. "Freunde haben mir etwas Geld gegeben, damit ich Wahlplakate drucken konnte", sagt er.
Die Poster zeigen einen freundlichen alten Herrn in besticktem weissem Hemd und Multifunktionsweste. Sein Symbol, anhand dessen die Analphabeten ihn auf dem Wahlzettel wiedererkennen können, sind vier Rubabs, ein traditionelles afghanisches Saiteninstrument. "Ich weiss nicht, ob die Plakate etwas bringen", sagt Baqi. Es gebe allein in Kabul 804 Kandidaten für 32 Sitze. Lieber rede er mit den Menschen von Angesicht zu Angesicht. "Ich erkläre, dass ich mich für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern einsetze und für die Gleichberechtigung der ethnischen Gruppen. Ich bin für Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit", sagt Baqi.
Insgesamt konkurrieren etwa 2500 Frauen und Männer um die 250 Sitze in der Wolesi Jirga. 68 Sitze sind für Frauen reserviert. Dass es eine solche Vielzahl von Kandidaten gibt, ist ein Ergebnis des afghanischen Wahlsystems, das es Parteien nicht erlaubt, Listen aufzustellen. Alle Kandidaten treten als Privatpersonen an. Knapp neun Millionen Bürger sind zur Wahl registriert, davon etwa drei Millionen Frauen.
Nicht nur der schwunghafte Handel mit Wahlkarten hat im Vorfeld für Unmut gesorgt. 35 Kandidaten wurden aufgrund von Verbindungen zu bewaffneten Gruppen von der Wahl ausgeschlossen, unter ihnen auch die prominente Frauenrechtlerin Fawzia Koofi. "Ich habe zuerst gedacht, das ist ein Witz", sagt Koofi, die für ihre Kritik an den mächtigen afghanischen Kriegsherren bekannt ist. Die langjährige Abgeordnete vermutet, dass Gegner in ihrer Heimatprovinz Badakhshan hinter der Anschuldigung stecken, und wirft dem Chef der Wahlbeschwerdekommission Bestechlichkeit vor.
Reiche Warlords kaufen sich MachtDie Kriegsherren sind seit der Zeit des afghanischen Jihad, des bewaffneten Kampfes gegen die Besatzung durch die Sowjetunion, aus Afghanistan nicht mehr wegzudenken. Wer immer in dem Land am Hindukusch Einfluss nehmen will, stattet sie mit Geld und Waffen aus. Sie sind, wie Baqi Samander sagt, "eine neue Schicht von Millionären in Afghanistan". Für sie sei es ein Leichtes, den Armen eine warme Mahlzeit und 1000 Afghani (etwa 13 Franken) zu spendieren, um sich am Wahltag Unterstützung zu sichern.
Baqi sieht dennoch auch das Positive. "Viele der früheren Mujahedin wie Rasul Sayyaf, Abdul Rashid Dostum und Gulbuddin Hekmatyar schicken ihre Söhne oder andere Vertraute als Kandidaten für das Parlament ins Rennen. Das zeigt, dass sie ihre Macht nicht mehr nur durch Waffengewalt sichern können." Auch die Taliban hätten in der Vergangenheit Stellvertreter im Parlament gehabt.
Der erste landesweite Waffenstillstand im Juni dieses Jahres habe gezeigt, dass es durchaus Taliban gebe, die Frieden wollten, so Baqi. Der neue amerikanische Sonderbeauftragte Zalmay Khalilzad, selbst ein gebürtiger Afghane, werbe derzeit intensiv auch bei den Taliban für die Bildung einer grossen Koalition zur Präsidentschaftswahl 2019. Dazu sei er auch auf die Unterstützung des Parlaments angewiesen.
Das vorläufige Ergebnis der Parlamentswahl wird erst am 10. November feststehen. Wegen der Einführung biometrischer Auszählungsgeräte, die die Fingerabdrücke der Wählerinnen und Wähler nach Abgabe der Stimme speichern, verzögert sich der Auszählungsprozess. Denn in keiner der 34 afghanischen Provinzen gibt es eine durchgehend stabile Internetverbindung. Das Endergebnis soll nach einer Einspruchsfrist am 20. Dezember bekanntgegeben werden.
Baqi Samander macht sich keine grossen Hoffnungen, dass er dann als Abgeordneter in die Wolesi Jirga einziehen wird. "Vielleicht wählen mich ja 1000 oder 2000 Leute, wer weiss . . ."