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Trauer um einen wortgewaltigen Schöngeist | NZZ

Für manche war Atal Bihari Vajpayee der wichtigste indische Politiker seit Nehru. Der Regierungschef (1999-2004) wirkte als Versöhner in einer gespaltenen Gesellschaft.

Atal Bihari Vajpayee war der erste Premierminister der heute regierenden Hindu-nationalistischen Bharatiya-Janata-Partei (BJP). Er führte von 1999 bis 2004 eine Koalitionsregierung aus 13 Parteien an, zuvor war er bereits zwei Mal für kurze Zeit Regierungschef gewesen. In seine Amtszeiten fielen einschneidende politische Ereignisse für Indien und die Region, etwa die Atomwaffentests von 1998, die internationale Sanktionen nach sich zogen, der kurze Krieg gegen Pakistan auf den Kargil-Bergen 1999, die Entführung eines indischen Flugzeugs von Kathmandu in das von den Taliban beherrschte Afghanistan, der Terroranschlag auf das Parlament in Delhi 2001 sowie das Massaker an mehr als 1000 Muslimen im Teilstaat Gujarat, wo damals sein Parteifreund, der heutige Premierminister Narendra Modi, regierte.

Gegenstück zu Modi

Vajpayee wurde ebenso wie Modi vorgeworfen, nichts gegen das Massaker unternommen zu haben. In dieser Zeit wurde von seinen politischen Gegnern der Ausdruck geprägt, Vajpayee sei die "liberale Maske" der BJP. Denn der wortgewaltige Schöngeist, der stets leise sprach und differenziert formulierte, war seit seiner Jugend Mitglied des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), des Hindu-nationalistischen Freiwilligenkorps, einer Organisation, der auch heute wieder vorgeworfen wird, antimuslimische Gewalt zu schüren.

Doch in den Nachrufen dominierten die liebenswerten Seiten des Mannes, der kaum Feinde hatte und über politische und religiöse Lager hinweg Freundschaften aufbauen und aufrechterhalten konnte. In diesem Bild von Vajpayee, dem Versöhner, offenbart sich auch eine Sehnsucht der Gesellschaft nach einer Harmonie, die die jetzige Regierung unter Narendra Modi nicht bieten kann und die vielleicht für immer verloren ist.

Während der in sich ruhende Brahmane aus Gwalior in seinem Umfeld ausgleichend wirkte und in der Lage war, den Separatisten in Kaschmir und den Feinden in Pakistan die Hand entgegenzustrecken, ist der aus kleinen Verhältnissen stammende Aufsteiger Modi aus anderem Holz geschnitzt, Widerstand gewohnt und im Kampf gehärtet. Niemand zweifelt daran, dass Indien heute ein anderes Land ist als zu Vajpayees Zeit: polarisierter und uneins, aber auch erfolgreicher und robuster im Auftritt.

Hindu-Nationalismus

Doch war Vajpayee auch ein "Demokrat in der Tradition Nehrus", wie sein langjähriger Mitarbeiter Sudheendra Kulkarni meint? Jawaharlal Nehru, Indiens erster Premierminister, hatte früh Vajpayees politisches Talent erkannt und vorhergesagt, er werde einmal Regierungschef. Zweifellos wusste Vajpayee, der Politikwissenschafter, dass die religiöse und ethnische Diversität Indiens Demokratie und Ausgleich verlangt. Doch er hat auch den Aufstieg jener Kräfte ermöglicht gemacht, die den Hinduismus nicht nur zur grössten, sondern auch zur dominierenden Religion machen wollen.

Atal Bihari Vajpayee war nie verheiratet, er adoptierte aber die Tochter seiner engen Freundin Rajkumari Kaul. 2009 zog er sich nach einem Schlaganfall aus der Öffentlichkeit zurück. Nach langer Krankheit ist er im Alter von 93 Jahren in Delhi gestorben.

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