Wie Mahatma Gandhi vor 100 Jahren lokalen Bauernprotest und nationale Widerstandsbewegung zusammenführte.
Wer über Protest in Indien nachdenkt, kommt an Mohandas Karamchand "Mahatma" Gandhi (1869-1948) nicht vorbei. Bis heute sind alle Formen gewaltfreien Widerstands von dessen Konzept des "Satyagraha" beeinflusst. Satyagraha ist Sanskrit und bedeutet frei übersetzt "Kraft der Wahrheit". Es beruht auf der philosophischen Annahme, dass nichts ausserhalb der Wahrheit existiert. "Wahrheit (satya) bedeutet Liebe und Festigkeit (agraha) und ist ein Synonym für Kraft", erläuterte Gandhi sein Konzept. Und: "Ich habe begonnen, die indische Bewegung Satyagraha zu nennen, eine Kraft, die aus Liebe und Wahrheit oder Gewaltfreiheit geboren ist."
Im April dieses Jahres feierte die Regierung des Gliedstaates Bihar den Beginn der Satyagraha-Bewegung in Indien, die nach Auffassung von Historikern 1917 mit Protesten von Indigo-Bauern im Distrikt Champaran begann und 1947 in der Unabhängigkeit des Landes von 200 Jahren britischer Kolonialherrschaft kulminierte.
Während der Begriff Satyagraha zum ersten Mal von Gandhi während seiner Zeit in Südafrika (1893 bis 1914) verwendet wurde, wo er als junger Anwalt gegen das Apartheidregime antrat, nahm das Konzept in seinem Heimatland zunächst nur langsam Gestalt an. Nach Auffassung des indischen Historikers Irfan Habib waren die Ausbeutungsstrukturen in Bihar so tief, dass "Satyagraha in der Form, wie Gandhi es in Südafrika organisiert hatte, nicht möglich war".
"Seit der Schlacht von Plassey 1757 (als die Britische Ostindien-Kompanie Bengalen annektierte) bedeutete britische Herrschaft die fortgesetzte Ausbeutung Indiens. Am meisten litten darunter Bauern, Kunsthandwerker und die arbeitenden Armen", so Habib. Indigo-Bauern in Bengalen, die den Rohstoff zur Herstellung des bekannten blauen Farbstoffs produzierten, wurden bereits im 17. Jahrhundert von britischen Eroberern dazu gezwungen, Indigo billig an sie zu verkaufen. Ihre Proteste wurden niedergeschlagen. In Champaran in Bihar wurden ganze Dörfer von den Grossgrundbesitzern ("zamindars") an britische Produzenten verpachtet. Diese zwangen die Bauern, auf den besten Teilen des von ihnen gepachteten Landes Indigo-Pflanzen anzubauen.
Als Gandhi verhaftet wurde, protestierten Hunderttausende.
Als 1880 in Deutschland ein künstlicher blauer Farbstoff entwickelt wurde, fielen die Preise für Indigo dramatisch. Die Grossgrundbesitzer versuchten, ihre Verluste auszugleichen, indem sie höhere Pacht verlangten, wenn Bauern den Indigo-Anbau reduzierten. Landarbeiter wurden zur Arbeit gezwungen. Als während des Ersten Weltkriegs der Farbstoff aus Deutschland knapp wurde, wurden die Bauern erneut gezwungen, mehr Indigo anzubauen.
Dann kam Gandhi. Er rief keineswegs sofort zu Widerstand auf. Stattdessen stellte er ein Team zusammen, das nach Champaran ging, um Informationen über die Lebens- und Arbeitsbedingungen vor Ort zu sammeln. Es sprach mit den Bauern und legte der Regierung detaillierte Beschwerden und Verbesserungsvorschläge vor. Als Gandhi verhaftet wurde, weil er angeblich zum Aufruhr anstiftete, protestierten Hunderttausende vor dem Gefängnis und verlangten seine Freilassung. Die Regierung knickte ein. Gandhi überwachte persönlich den Prozess zur Umsetzung der vorgeschlagenen Gesetzesänderungen im Oktober 1917. "Die Art, wie Gandhi die Krise in Champaran bewältigt hat, ist ein Beispiel für gute Führung", sagt Irfan Habib. Fortan wurde er von den Menschen respektvoll als "Mahatma" (Grosse Seele) und als "Bapu" (Vater) adressiert.
Viele weitere Protestaktionen folgten. Stets verband Gandhi dabei das Schicksal der einfachen Menschen mit dem grösseren Ziel, der Unabhängigkeit Indiens. So mobilisierte er Millionen. "Es war eine wichtige intellektuelle Leistung der frühen Nationalisten, dass sie zeigen konnten, wie Ausbeutung des Wohlstandes und Deindustrialisierung Indien ruiniert haben", so Historiker Habib.
Heute gibt es nicht mehr einen klaren Feind in Indien. Das Land ist eine Demokratie, in der Regierungen gewählt und abgewählt werden können. Für Protestbewegungen ist es schwieriger. Sie müssen zeigen, dass sie nicht nur Partikularinteressen vertreten. Aber die Erinnerung an Gandhis kreative Formen des gewaltfreien Widerstands ist geblieben.
Britta Petersen ist Senior Fellow bei der indischen Denkfabrik Observer Research Foundation (ORF) in Delhi.