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Reportage spécial

Mit Industrie 4.0 in die Zukunft

Selten klingt Angela Merkel derart drastisch: „Die nächsten zehn Jahre werden darüber entscheiden, ob wir weiter ein führendes Industrieland sind. „Geht es aber, wie auf dem politischen Aschermittwoch Anfang des Jahres, um Industrie 4.0, ist dieser Ton der Kanzlerin längst zur Normalität geworden.  Große Hoffnungen sind in Politik und Wirtschaft mit diesem Schlagwort verbunden. Vielerorts wird gar von der vierten industriellen Revolution gesprochen.

Im Kern geht es um den Einzug der Digitalisierung in die Unternehmen und Fabriken. Produktionssysteme, die komplett vernetzt sind, miteinander kommunizieren und alle notwendigen Daten in Echtzeit liefern. Intelligente Produkte, die ihrem Benutzer eine Fülle neuer Möglichkeiten bieten. Mensch und Maschine Hand in Hand.  Enormes Potenzial 30 Mrd. Euro zusätzlichen Umsatz könne die deutsche Industrie durch die neuen Technologien bis 2020 jährlich erwirtschaften, heißt es in einer Studie der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) vom Oktober 2014. Auch Reiner Anderl, Professor für Datenverarbeitung in der Konstruktion an der TU Darmstadt, sieht enormes Potenzial: „Die Unternehmen, die Industrie-4.0-Technologien implementieren, werden einen klaren Wettbewerbsvorteil haben.“  

Ein Vorreiter in dieser Hinsicht ist Festo aus dem schwäbischen Esslingen. Das Familienunternehmen produziert Automatisierungstechnik und ist in 176 Ländern vertreten. „Industrie 4.0 bietet Riesenpotentiale, sowohl für unsere internen Prozesse als auch mit Blick auf unsere Kunden“, sagt Axel-Andreas Gomeringer, Leitung Innovation and Technology Management bei Festo. Schon lange beschäftigt die Schwaben das Thema in der Forschung. Mittlerweile ist es auch in der Produktion angekommen. Ende September wurde unweit des Stammsitzes die rund 70 Mio. teure Technologiefabrik Scharnhausen eröffnet. Diese „Fabrik der Zukunft“ soll als Leitwerk für die Produktion von Ventilen, Ventilinseln und Elektronik fungieren. 2000 Mitarbeiter erleben hier die neue Industrie-4.0-Arbeitswelt. Die Wartung einer Maschine etwa lässt sich in Scharnhausen bequem per Tablet erledigen. Auch gibt es einen sogenannten kooperativen Roboter. Statt hinter einem Sicherheitszaun versteckt, arbeitet er direkt mit seinen menschlichen Kollegen zusammen. Neben einer Steigerung der Produktivität verspreche man sich so deutlich mehr Effizienz und eine höhere Qualität der Produkte, so Gomeringer.


Diese Einschätzung deckt sich mit den Ergebnissen der PwC-Studie: Allein eine Effizienzsteigerung von 18 Prozent sei für die Industrie in fünf Jahren möglich. Potenzial schlummert auch in einem weiteren Punkt: „Kundenspezifische Lösungen werden immer wichtiger“, sagt Reiner Anderl. „Mit vernetzter Produktion gehen diese deutlich besser von der Hand.“


Keine Gefahr für Arbeitsplätze


Beim Weltmarktführer für Reinigungstechnik Kärcher macht man sich genau das seit Kurzem zu nutze. Bodenreiniger, wie sie etwa in Supermärkten täglich benutzt werden, sind Einzelstücke. „Wie beim Auto erhält jede Maschine genau jene Ausstattung, die der Kunde wünscht“, erklärt Wolfgang Thomar, Executive Vice President Production Engineering. Das ist enorm aufwendig in der Produktion. Seit Anfang des Jahres hat Kärcher eine erste Industrie-4.0-Montagelinie im Einsatz. An diesem Pilotprojekt wird der spezifische Auftrag eingescannt und ab dann gibt die Linie dem Arbeiter alle Schritte vor: Boxen mit Bauteilen leuchten auf, wenn die entsprechende Komponente gebraucht wird. Greift der Mitarbeiter einmal falsch zu, wird der Prozess gestoppt. „Der Auftrag wird ohne ein einziges Blatt Papier ausgeführt“, sagt Thomar. „Alles ist digitalisiert.“


In einer vernetzen Fabrik ergeben sich so auch völlig andere Jobprofile. „Bei Aus- und Weiterbildung muss jetzt der Fokus auf die neuen Arbeitsweisen gelegt werden“, sagt Stefan Schrauf, Partner bei PwC und mitverantwortlich für die Industrie-4.0-Studie. Eine Gefahr für Arbeitsplätze sieht er wie auch Anderl in der Digitalisierung aber nicht – im Gegenteil: „Industrie 4.0 bietet die Chance, auch weiterhin in Hochlohnländern wie Deutschland zu produzieren.“


Die Unternehmen sind sich der Herausforderung bewusst: Bei Festo hat man in Scharnhausen gleich eine Lernfabrik integriert. Hier wird die Belegschaft Stück für Stück in die neue Arbeitswelt eingeführt. Auch Kärcher plant die neuen Inhalte in der hauseigenen Akademie zu vermitteln, sobald das Pilot-Projekt ausgerollt wird. Gleichzeitig beschränkt sich Industrie 4.0 keinesfalls nur auf die Produktion: „Das Ziel muss sein, die gesamte Wertschöpfungskette zu digitalisieren“, sagt Festo-Mann Gomeringer.


Elementar hierfür ist das Thema Daten: „Die integrierte Analyse und Nutzung von Daten ist die Kernfähigkeit im Rahmen von Industrie 4.0.“, heißt es in der PwC-Studie. Dazu braucht es aber entsprechende Sensorik. Alles muss vernetzt sein. Nur so wird etwa ein Austausch mit Zulieferern und Kunden möglich.


Festo hat etwa ein Energie-Monitoring-System entwickelt, das es auch an seine Kunden verkauft. Die Komponente sammelt sämtliche Daten über den Verbrauch einer Anlage und leitet sie an eine Steuerungseinheit weiter. Haben nun alle Parteien Zugriff zu diesen Daten, können alle von den Erfahrungen der anderen profitieren. Bei Festo und Kärcher arbeitet man auch bereits mit Cloud-Lösungen, damit Informationen jederzeit verfügbar sind.


Um mit der neuen Datenflut richtig umgehen zu können, bedarf es Investitionen und Fachwissen. Verändern muss sich aber auch die Grundeinstellung in der deutschen Gesellschaft: „Die Wichtigkeit von Datensicherheit wird überall betont“, so Unternehmensberater Schrauf, „aber ein Bewusstsein für den Mehrwert, den das Teilen von Daten erbringt, ist vielerorts noch nicht ausgeprägt.“

Industrie 4.0: Nachholbedarf im Mittelstand


Für die Unternehmen kann das zum Problem werden: „Es ist eine Chance, mit unseren Kunden zusammen noch bessere Leistungen zu erbringen“, befindet Thomar vom Reinigungsspezialisten. Die dürfe man nicht verspielen. Kärchers Reinigungsmaschinen liefern zum Beispiel ein detailliertes Protokoll über den Putzmittelverbrauch, die Einsatzzeit und die gereinigte Fläche. Das ermöglicht dem Kunden eine absolut exakte Abrechnung. Gleichzeitig habe der Datenschutz aber weiterhin höchste Priorität bei Kärcher. Dasselbe gilt für Festo. Niemand hier will erleben, dass etwa ein Roboter gehackt wird und am Ende Menschen zu Schaden kommen. Doch auch Axel-Andreas Gomeringer betont: „Wir dürfen uns beim Thema Daten nicht selbst im Weg stehen.“


Tatsächlich scheint Industrie 4.0 insgesamt im Mittelstand noch nicht vollends angekommen zu sein: Zwar bewerten in der aktuellen Commerzbank-Mittelstands-Studie 86 Prozent den digitalen Wandel „als große Chance“ für Deutschland. Gleichzeitig gestehen aber fast zwei Drittel ein, dass der Mittelstand das Thema bislang eher vernachlässige. Wie die Studie zeigt, warten viele Unternehmen die Entwicklung ab, statt selbst aktiv zu werden. Das hat Gründe: Oft fehlt es an Expertise, um einschätzen zu können, welche Möglichkeiten die Digitalisierung für das eigene Unternehmen bietet. Abschreckend wirken auch die notwendigen Investitionen, fehlende Standards und wenig Erfahrung im Umgang mit großen Datenmengen.


Diese Zurückhaltung kann nach Ansicht von Unternehmensberater Stefan Schrauf gefährlich werden: „Das Thema Industrie 4.0 zu ignorieren ist fatal.“ Reiner Anderl schlägt in die gleiche Kerbe: „Jedes Unternehmen braucht eine Road Map.“ Dabei geht es freilich nicht darum, auf einen Schlag ein buntes Paket Industrie-4.0-Lösungen zu implementieren. „Ein Unternehmen muss verstehen, welche zwei, drei Punkte essenziell sind, die entsprechenden Industrie-4.0-Lösungen hierzu finden und dann genau dort investieren“, erklärt Schrauf.


Nützliche Zusammenarbeit


Hilfestellung und Fördergelder bieten verschiedenste Initiativen von Wirtschaft, Politik und Forschung. Zentrale Anlaufstelle ist die von Bundeswirtschafts- und Bundesbildungsministerium geleitete „Plattform Industrie 4.0“. Speziell der Skepsis in puncto Datensicherheit könne die Politik zudem mit EU-weit einheitlichen Standards entgegenwirken, so Schrauf. Enormes Potenzial sieht der PwC-Mann auch in einem anderen Bereich: „Gerade Kollaborationen fördern die Entstehung und Weiterentwicklung neuer Technologien.“


Tatsächlich ist die Montage-Linie von Kärcher über knapp zwei Jahre in enger Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation entstanden. Auch mit Nachbarunternehmen steht Kärcher im Austausch. Festo arbeitet aktuell unter anderem mit sechs Partnern an einem virtuellen 3-D-Abbild einer Fabrik. Das Ziel: In Zukunft mithilfe einer Software Funktionen testen, noch bevor die Anlage tatsächlich gebaut ist. Für jetzt sind sich aber alle Beteiligten einig: 


Industrie 4.0 steht in Deutschland noch am Anfang. „Wir werden die Einführung nicht mit einem Big Bang erleben“, befindet Professor Anderl. Er sei aber sicher, dass die Entwicklung schnell genug vorangetrieben werde: „Schon in fünf Jahren wird unsere mittelständische Industrie ganz anders aussehen.“ Diese Aussicht dürfte auch Angela Merkel gefallen.


erschienen im Heft "Personal, Strategie", 5/15