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Birobidschan sucht nach seiner Identität

„Wir haben in einem Ghetto in der Ukraine gelebt. Die Rote Armee befreit uns. Doch wir hatten alles verloren, alles was abgebrannt. Es gab nichts mehr. Deshalb zogen wir in den Fernen Osten“, erzählt Zelja Tschernych. In Birobidschan im russischen Autonomen Jüdischen Gebiet (JAG), hoffte ihre Familie nach dem Zweiten Weltkrieg auf einen Neubeginn, fern vom Schrecken und Elend in Europa.


Regelmässig trifft sich die heute 72-Jährige mit einigen Altersgenossinnen im Gemeindezentrum der jüdisch-religiösen Gemeinschaft „Freid“ in Birobidschan. Die Geschichten der Frauen ähneln sich: Ihre Eltern zogen hierher um Armut, Hunger und Verfolgung zu entgehen. Einige kamen freiwillig, wieder andere wurden umgesiedelt. Gemeinsam teilten sie jedoch die Utopie, in Birobidschan eine neue Heimat für Juden schaffen zu wollen. Bereits vor dem Krieg propagierte die Sowjetführung den Landstrich an der chinesischen Grenze unter der jüdischen Bevölkerung Europas als säkulare und sozialistische Alternative zum zionistischen Palästina. Am Anfang stand jedoch die mühsame Urbarmachung der Taiga. Als die ersten Siedler 1928 die Eisenbahnstation Tichonkaja, das spätere Birobidschan, erreichten, bot sich ihnen kein ermutigender Anblick. Das Gebiet nahe der beiden namensgebenden Flüsse Bira und Bidschan liegt in einer unwirtlichen Gegend, 8000 Kilometer von Moskau entfernt. Im Winter fällt das Thermometer schon mal auf minus 30 Grad. Im Sommer wechseln sich Hitze und sintflutartige Regenfälle ab, der blutrünstigen Mücken kann man sich kaum erwehren.


„Als wir 1934 her kamen, war überall nur Sumpf. Vom Bahnhof zum Markt sind wir mit dem Boot gefahren“, erzählt die 84-jährige Awa Jawiz. Wo sich heute das Stadtzentrum befindet, hätten sie gefischt und Kühe gehütet. Zu Beginn bestand Birobidschan nur aus kleinen, einstöckigen Holzhäusern und Baracken. Die meisten Siedler kamen aus der Ukraine, Weissrussland und dem Westen Russlands. Bei der Fahrt durch die spärlich besiedelte Region erinnern vielerorts Ortsnamen an die Herkunft der Menschen: Schilder weisen etwa den Weg nach Kawkas, Tambowka das nach der zentralrussischen Stadt Tambow benannt wurde oder Gomelka, was auf Verbindungen nach Weissrussland hinweist.


1934 wurde Birobidschan den Status der Jüdischen Autonomen Region verliehen. Jiddisch wurde als traditionelle Umgangssprache der jüdischen Bevölkerung neben Russisch offizielle Sprache im JAG. Jiddische Zeitungen und Bücher erschienen, es gab ein Theater und in der Schule war der Unterricht bis zur vierten Klasse ebenfalls auf Jiddisch, erinnert sich Tschernych. Nur wenige Jahre nach der Gründung erreichten die Säuberungen unter Stalin zwischen 1936 und 1938 jedoch auch Birobidschan. Die politische Führung des JAG wurde verhaftet, jiddische Schulen geschlossen, jiddische Bücher verbrannt und die jüdische Kultur und Erziehung die zuvor noch gefördert wurde, unterdrückt. Obwohl Birobidschan nach dem Zweiten Weltkrieg eine kurze Wiederbelebung erfuhr, war das Experiment einer jüdischen Heimstatt auf sowjetischem Boden de facto bereits nach kurzer Zeit gescheitert. Das Leben war hart:  „Es gab Zeiten, in denen man in Birobidschan kein Jude sein durfte“, erzählt Roman Lejder, Leiter der jüdisch-religiösen Gesellschaft „Freid“. In seinem Büro im Gemeindezentrum steht in einer Ecke die russische, israelische und die Flagge des JAG. Dazwischen ein kleines schwarzweisses Foto. Es zeigt Lejders Vater: Ein junger Mann mit Spitzhacke auf der Schulter, den Blick voller Optimismus. Anfang der 30-er Jahre seien seien Eltern in den Fernen Osten gekommen, um das JAG mit aufzubauen, erzählt der 74-Jährige. Der Vater aus Polen, die Mutter aus der Ukraine.


Auf den Strassen Birobidschans ist Jiddisch heute kaum noch zu hören. Früher sassen die alten Birobidschaner noch auf dem zentralen Platz, wo heute ein überdimensioniertes Denkmal der sowjetischen Opfer im Zweiten Weltkrieg gedenkt, beisammen und tauschten sich auf Jiddisch aus, erinnern sich Zeitzeugen Wie viele Juden denn in der 74.000 Einwohner zählenden Stadt leben, weiss niemand. Lejder schätzt ihre Zahl auf etwa 5000. Genau wisse er es auch nicht, sagt der pensionierte Beamte. Allzu streng würden sie die Religionszugehörigkeit hier nicht auslegen. Sie seien offener als andere. Wer das Gemeindezentrum oder die Synagoge besuchen wolle sei willkommen, meint er. Birobidschan hat einen Grossteil seiner jüdischen Bevölkerung bereits verloren. Viele emigrierten in den 90-er Jahren nach Israel. Die wirtschaftliche Lage ist prekär. Nur wenige Fabriken im JAG haben noch Aufträge, durch den stark im Wert gefallenen Rubel lohnt sich der Handel mit dem benachbarten China nicht mehr. Das Durchschnittsgehalt beträgt umgerechnet 468 Franken. Arbeitssuchende versuchen ihr Glück in der zwei Stunden entfernten Metropole Chabarowsk.


Birobidschan versucht sich nun allerdings wieder stärker auf seine jüdische Identität zu besinnen. Im Stadtzentrum wurden neue zweisprachige Strassenschilder in Russisch und Jiddisch angebracht. Für Aussenstehende wirkt das Revival dagegen manchmal etwas gar kitschig. So können sich Touristen etwa in der Hotellobby mit einer lebensgrossen Pappfigur die Bart und Schlägenlocken trägt, fotografieren lassen. Kühlschrankmagnete in Form kleiner jüdischer Figuren werden als Souvenirs verkauft. Im Restaurant wird  „Fleisch mit Piroschkes“ und „Gefilte Fisch“ serviert, zum Essen Klezmer-Musik gespielt. Vor dem Bahnhof steht eine riesige Menorah, daneben ein Denkmal für die ersten Siedler Birobidschans in Form eines lebensgrossen Pferdefuhrwerks mit Passagieren. Entworfen hat die Skulptur der Künstler und Illustrator Wladislaw Zapf, der uns beim Besuch in seinem Büro auch noch seine Bilder zeigt: Bunte, naive Sujets eines fiktiven jiddischen Schtetls. Nicht weil diese dem Geschmack der Birobidschaner entsprechen, nein, es seien ausländische Touristen, welche seine Bilder kaufen, erzählt der 61-Jährige.


Erbaut wurde auch das Gemeindezentrum „Freid“ plus Synagoge. Moskau spendete unlängst eine neue Torah. Eine jiddische Sonntagsschule soll speziell die junge Generation ansprechen. Trotzdem bleibt die Religion aussen vor. Kaum jemand bezeichnet sich in Birobidschan als religiös. Niemand trägt auf der Strasse eine Kippah. Was eine jüdische Identität denn genau bedeutet, lässt sich meist nur schwer festmachen. Man besuche die Synagoge aus Verehrung, Tradition und Respekt vor den Eltern, meint Zapf. Oft überwiegt die sowjetisch geprägte Erziehung von Geschichte als Ablauf von Heldentaten. Auch im städtischen Museum von Birobidschan ist viel zu lesen von harter entbehrungsreicher Arbeit und  einer überplanmässigen Erfüllung der Fünfjahrespläne. Informationen über Verfolgung und Repression sind allerdings kaum zu finden.


Auch Elena Saraschewskaja interessiert sich für die Geschichte des JAG. Die Chefredakteurin des „Birobidschaner Schtern“ sitzt in ihrem Büro im städtischen Pressehaus, ein Stockwerk unter Zapf. Immer wieder sind in der seit den 30-er Jahren erscheinenden Zeitung Berichte über den Aufbau Birobidschans zu lesen. Unerwähnt bleibt im Gespräch mit uns allerdings die Repressionen, welche die Journalisten erdulden mussten. Unter Stalin geriet der „Birobidschaner Schtern“ auch ins Visier der Behörden. Wegen nationalistischem Gedankengut wurden Autoren und Herausgeber zu mehrjähriger Lagerhaft verurteilt.  Erst erschien das Blatt ganz auf Jiddisch. Heute sind es pro Ausgabe nur noch wenige Artikel. Das fremde Alphabet, die Lese- und Schreibrichtung von rechts statt von links hätten sie fasziniert und so habe sie Jiddisch gelernt, erzählt Saraschewskaja, obwohl sie nicht Jüdin sei. Die Zeitung hat allerdings ein Nachwuchsproblem. Es gibt immer weniger Autoren, welche die Sprache noch beherrschen, klagt die Journalistin. Erschwerend kommt dazu, dass laut ihr an der Universität Birobidschan der Lehrstuhl für Jiddisch mit der Begründung, der Unterricht würde sich wirtschaftlich nicht mehr rentieren, geschlossen wurde.

Ob es der jüdischen Gemeinschaft gelingt, in Birobidschan eine Identität jenseits von Folklore und Sowjetnostalgie aufzubauen, ist fraglich. Für Zelja Tschernych ist der Fall klar: „Solange ein Jude in der Stadt ist, wird unsere Tradition bewahrt“. Dann beginnt sie auf Jiddisch zu singen von Joske dem Traktor-Brigadier, der nach dem Sturm auf Berlin nun um die beste Melkerin der Kolchose wirbt.



Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Pläne, eine eigene Heimstatt für die jüdische Bevölkerung zu schaffen. Grossbritannien bot Theodor Herzl, dem Gründer der Zionistischen Weltorganisation, nach Pogromen in Russland an, einen jüdischen Staat im ostafrikanischen Uganda zu erschaffen. 1904 bereiste eine Delegation das Territorium, lehnte den Vorschlag jedoch ab, da die lokale Bevölkerung wenig Begeisterung ob einem möglichen Zuzug einer grossen Zahl von Europäern zeigte. Später wurden Pläne für Australien oder Tasmanian diskutiert. Aber auch auf dem Gebiet der Sowjetunion gab es Ansiedlungspläne. Die Bolschewisten wollten die jüdische Bevölkerung dazu bringen, in der Landwirtschaft zu arbeiten was in ihren Augen als produktiver galt als die Arbeit als Händler, Tagelöhner oder Handwerker, mit welcher der Grossteil der Juden seit dem Zarenreich ihren Lebensunterhalt verdiente. In Weissrussland, der Ukraine und auf der Halbinsel Krim wurden deshalb jüdische landwirtschaftliche Kolonien gegründet. Die Projekte scheiterten jedoch, nicht zuletzt weil sich die lokale Bevölkerung gegen den Zuzug der jüdischen Siedler wehrte. Der Ferne Osten erschien dem Kreml da als gute Alternative - nicht zuletzt aus geostrategischer Bedeutung. Man wollte das Gebiet gegen mögliche chinesische und japanische Expansionen sichern.



Der Artikel ist am 17. November im Magazin Doppelpunkt erschienen

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