3 abonnements et 2 abonnés
Article

Dort, wo Moskau weit weg ist

Die Bässe wummern, die Sängerin im grauen Abendkleid stimmt in voller Lautstärke einen russischen Schlager an. Noch etwas zurückhaltend bewegen sich die ersten Gäste auf der in violettes Scheinwerferlicht getauchten Tanzfläche im 16. Stock des Hotel Asia in Blagoweschtschensk. Vor den Fenstern des Drehrestaurants ziehen langsam die Dächer der Stadt vorbei. Am Horizont leuchten ein Riesenrad und ein Fernsehturm – beide befinden sich in Heihe, der Stadt hinter der chinesischen Grenze. Die meisten Gäste haben jedoch eher Augen für das Buffet als für den spektakulären Ausblick. Im Restaurant des Hotel Asia gibt esgemischte Küche: kalte Lachsröllchen zur Vorspeise, dazuallerlei Frittiertes mit Reis.

Kaum irgendwo sind sich Russland und China so nah wie in Blagoweschtschensk, 7800 Kilometer östlich von Moskau. Einzig der Amurfluss trennt die beiden Länder voneinander. „Früher war da drüben nur eine kleine Siedlung“, erzählt Alexander Kudrin, der mit zwei Kollegen in Blagoweschtschensk am Ufer steht und fischt. In China war Kudrin noch nie. Hier sei es doch auch schön, meint er, und gibt sich unbeeindruckt von der bunten Skyline aus Hochhäusern, Fernsehturm und Riesenrad, die sich im gemächlich dahinfliessenden Fluss spiegelt.


Zwar führt über den Amur keine Brücke, doch die Fähre erreicht nach zehnminütiger Fahrt Heihe. Zu Sowjetzeiten war die Grenze noch streng bewacht, heute brauchen AnwohnerInnen für einen Kurzbesuch nicht einmal mehr ein Visum. Viele in der Region Amur, zu der Blagoweschtschensk mit seinen 215000 EinwohnerInnen gehört, verdienen am Import und Verkauf chinesischer Waren. Den HändlerInnen, die regelmässig über den Fluss pendeln, wurde in Blagoweschtschensk gar ein Denkmal errichtet: eine Figur mit Koffer und Kiste auf der Schulter, die mit Riesenschritten in Richtung China unterwegs ist.


In Heihe hat man sich derweil auf den Grenzverkehr aus Russland eingestellt. Die Fahrt ins Stadtzentrum führt vorbei an einer Reihe überdimensionaler Matrjoschka-Figuren, auf riesigen Plakaten preisen ÄrztInnen ihre Dienste auf Russisch an und im Stadtzentrum gibt es ein Restaurant Putin. Auf dem zentralen Markt werden DVDs, Sonnenbrillen, Haushaltsgeräte und Kleider verkauft. Potenzielle KundInnen sind jedoch kaum zu sehen. «Die russische Wirtschaft ist in der Krise, der Rubel ist schwach. Deshalb kommen zurzeit weniger Leute», erzählt die Besitzerin eines Teegeschäfts, die sich als Anja vorstellt, in gebrochenem Russisch. Reden mag sie aber einzig über ihr Geschäft und darüber, ob wir etwas kaufen wollen. Weiteren Fragen zum Alltagsleben in der Grenzregion weicht sie aus.

In den letzten Jahren erlebte Heihe einen Bauboom, moderne Hochhäuser und Einkaufszentren prägen das Stadtbild. Im Zentrum von Blagoweschtschensk bröckelt derweil der Putz. Plattenbauten wechseln sich mit einstöckigen Holzhäusern ab, auf den meisten Baustellen steht die Arbeit still. Russlands Ferner Osten ist überwiegend arm. Die milliardenschweren Subventionen aus Moskau fliessen hauptsächlich in diejenigen Gebiete, in denen Rohstoffkonzerne ihre Minen oder Raffinerien unterhalten.


Im Rest der Region ist die Infrastruktur nur mangelhaft ausgebaut und es fehlt an Arbeitsplätzen. In der Amur-Oblast betrug der Durchschnittslohn 2015 umgerechnet etwa 450 Franken. Die Preise für Lebensmittel steigen derweil immer weiter, Wohnungen kosten beinahe soviel wie in Moskau. Nur noch gerade etwas mehr als sechs Millionen Menschen leben auf einem Gebiet, das 36 Prozent der Fläche Russlands umfasst. Fast jeder zweite würde laut einer aktuellen Umfrage gerne wegziehen. Deshalb hofft Russland auf Gelder aus China. Seit der Westen 2014 in Folge der Ukrainekrise Sanktionen gegen Russland verhängt hat, werden hochrangige PolitikerInnen in Moskau nicht müde, eine Wende des Landes nach Asien zu beschwören.

He Wenan will von Krise nichts hören. Stolz präsentiert der chinesische Bauunternehmer in Blagoweschtschensk das Modell seines Projekts „Klein-Venedig“. Der riesige Marmortisch, auf dem die Miniaturversion der italienischen Lagunenstadt aufgebaut ist, nimmt in seinem Büro fast den gesamten Platz ein. Rasch räumt He noch einen neongelben Eiffelturm aus Plastik weg, der neben dem Markusturm steht. Nach seiner Eröffnung in fünf Jahren soll der umgerechnet 89 Millionen Franken teure Komplex aus Einkaufszentren, Hotels und Kanälen zu einer der grössten Attraktionen im Fernen Osten werden.


Der Unternehmer arbeitet schon lange in Russland. Heute ist der unauffällige Mann mit Schnurrbart einer der grössten Investoren in der Stadt, besitzt neben dem Hotel Asia mehrere Wohnhäuser und Einkaufszentren. Während der Perestroika sei er aus Heihe nach Blagoweschtschensk zum Arbeiten entsandt worden, erzählt He, während er in seinem riesigen weissen SUV zu den Klängen von Celine Dion zur Baustelle von „Klein-Venedig“ fährt. Zu sehen ist von dem ambitionierten Projekt dort  bislang jedoch kaum etwas. Die zwei Palazzos, die hier entstehen sollen,werden von den benachbarten Plattenbauten überragt. Die Frage, wo es sich besser leben lässt, wischt He weg. Der Wohnort sei ihm nicht wichtig. «In Russland musst du nur regelmässig deine Steuern zahlen, dann kannst du gut Geschäfte machen», sagt er.


Insgesamt investiert China bislang  jedoch äusserst zurückhaltend bei seinem nördlichen Nachbarn. Nicht einmal ein Prozent der gesamten chinesischen Auslandsinvestitionen gingen im vergangenen Jahr nach Russland. Und in Blagoweschtschensk begegnet so mancher der «Wende nach Osten» mit Misstrauen und Vorurteilen. Peking verfolge nur seine eigenen wirtschaftlichen Interessen, Moskau gelinge es nicht, seine Ansprüche durchzusetzen, ist oft zu hören.


Viele befürchten auch einen Ausverkauf der Ressourcen: „Wir liefern Energie günstiger nach China, als die Menschen hier für ihren Strom bezahlen müssen“, kritisiert Natalja Kalinina, Vorsitzende der liberalen Oppositionspartei Jabloko in Blagoweschtschensk. Holz, Rohstoffe, Getreide – alles werde nach China exportiert. Von der in Moskau propagierten „Wende nach Osten“ profitiere die Bevölkerung nicht, meint die 38-jährige Politikerin. Die UnternehmerInnen zögen ihre Profite lieber nach Moskau ab, anstatt sie in der Region zu investieren. Währenddessen leidet die Bevölkerung unter der Wirtschaftskrise, die das Land erfasst hat. In einigen Städten war im vergangenen Winter nicht einmal mehr genügend Geld vorhanden, um öffentliche Gebäude zu beheizen.


Das Gefühl, von Moskau im Stich gelassen worden zu sein, vermischt sich mit Ressentiments gegenüber den NachbarInnen aus China: Populistische Stimmen sprechen von einer „chinesischen Kolonialisierung“ des Fernen Ostens und sehen die „russische Identität“ der Region bedroht. Und auch wenn das Zusammenleben zwischen Russen und Chinesinnen in Blagoweschtschensk meist ohne Probleme verläuft, bleiben viele auf Distanz. Weniger als ein Prozent der hier geschlossenen Ehen seien binational, erzählt Olga Zalesskaja, Sinologin und Dekanin der Pädagogischen Hochschule in Blagoweschtschensk. Auch ihre Studierenden blieben lieber unter sich, Freundschaften zwischen Russinnen und Chinesen seien selten.


Seit der Wende habe sich das Verhältnis zwischen den beiden Ländern jedoch stetig verbessert, so Zalesskaja. Auch das Interesse an Sprachkursen wächst. Vor allem die junge Generation erhoffe sich laut der Sinologin mit einem Abschluss in Chinesisch bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt – gerade im Tourismussektor werden Sprachkenntnisse gebraucht. Vor dem Büro der Dekanin hängen rote China-Lämpchen, das staatliche chinesische Konfuzius-Institut bewirbt in Hochglanzbroschüren Sehenswürdigkeiten des Landes und traditionelle chinesische Familienwerte. Heute verstünden die RussInnen, dass sie ohne Beziehungen zu China nicht existieren können, meint sie.


Alexander Kuschnir hat in China Sinologie studiert. Einfach gefallen sei ihm das Leben dort nicht immer, erzählt er. Die Menschen in China seien sich etwa gewohnt, in Gesprächen viel persönlichere Fragen als in Russland zu stellen. Immer wieder sei es im Alltag daher zu Missverständnissen gekommen. Nun unterrichtet Kuschnir an der Universität Wladiwostok.

Wie viele ChinesInnenpermanent im Fernen Osten leben, lässt sich nur schwer schätzen: 2015 sind rund 9000 chinesische StaatsbürgerInnen auf das Gebiet der Russischen Föderation eingereist, im Grenzgebiet arbeiten viele aber auch illegal. Meist bleiben die MigrantInnen nur für einen kurzen Zeitraum und verlassen das Land dann wieder. In Wladiwostok müssten sich die BewohnerInnen mit dem Nachbarn China arrangieren, meint Kuschnir. Schlussendlich sei Moskau sehr weit weg – und ein Billett in die Hauptstadt koste in etwa doppelt so viel wie eines nach Seoul oder Tokio, die sich beide in zwei Stunden mit dem Flugzeug erreichen lassen.


Zurück in Heihe legt die Fähre in Richtung Blagoweschtschensk ab. Die Menschen kehren vom Sonntagsausflug zurück, trinken ein Bier auf dem Sonnendeck. Das Schiff ist auch voll mit Koffern, Kisten und den charakteristischen Plastiktaschen mit Karomuster. Chinesen und Russinnen reisen dabei jedoch nicht gemeinsam, sondern benutzen zwei separate Boote. Während der Überfahrt singt eine Sängerin im Radio voller Pathos: „Mein Weg wird kein leichter sein“. Das gleiche könnte man auch für die Beziehung zwischen Russland und China im Fernen Osten sagen.


Der Text ist zuerst am 13.Oktober in der WOZ erschienen

Rétablir l'original