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Feindbild weg?

Boulevard Man reibt sich die Augen: „Bild" und „B.Z." fahren einen flüchtlingsfreundlichen Kurs. Wir haben genauer hingeschaut

Collage: der Freitag

„Wer stoppt den Hass-Mob?", prangt in fetten weißen Lettern auf dem Titel der Bild-Zeitung. Die Überzeile: „Immer mehr unerträgliche Übergriffe auf Flüchtlinge". Vier Tage zuvor hatte eine 100-Mann starke Gruppe im sächsischen Clausnitz einem Bus mit Flüchtlingen die Zufahrt zu einem Wohnheim versperrt, mit Pöbeleien und Hassparolen. Als wenige Tage später ein künftiges Flüchtlingsheim in Bautzen abbrennt und Anwohner die Löscharbeiten behindern, titelt die kleine Schwester der Bild, die B.Z.: „Es wird wieder gejubelt, wenn es brennt". Das ist Axel-Springer-Boulevardjournalismus im Jahr 2016.

Drehen wir die Zeit 24 Jahre zurück: August 1992, Rostock-Lichtenhagen. Über Tage hinweg randalieren Rechtsradikale vor einem Flüchtlingsheim. Die Menschen applaudieren und johlen, als das Haus Feuer fängt. Und die Bild? Die titelte: „Ihr müßt euch schämen". Nein, nicht der Mob war gemeint, sondern Politiker. Im Kommentar darunter hieß es: „Die Randale beklatschen, sind keine Neonazis - manche von ihnen nicht einmal Ausländerfeinde." Vorher hatte die Bild noch auf dem Titel geraunt: „Fast jede Minute ein neuer Asylant. Die Flut steigt - wann sinkt das Boot?"

Flüchtlinge und Asylanten: Damals, kurz nach der Wende, mochte die Bild-Zeitung sie nicht. Heute ist hingegen vieles anders, in Deutschland, in Europa, weltweit. Und Bild zeigt Kante: nicht gegen Flüchtlinge. Sondern gegen Pegida, gegen Fremdenhass. Und für Angela Merkels „Wir schaffen das!". Heute schockt die Bild, wenn sie Facebook-Hetzer an den „Pranger der Schande" stellt. Wenn sie titelt: „Flüchtlingen helfen! Was ich jetzt tun kann". Oder wenn sie eine Hilfsaktion initiiert, wie im Sommer 2015 mit der Kampagne „Wir helfen". Wieder einmal schien die Bild-Zeitung einfach sehr geschickt, die momentane gesellschaftliche Stimmung erfasst und vereinnahmt zu haben: #refugeeswelcome. Aber wie reagiert das Blatt, wenn die Stimmung in der Bevölkerung kippt, fragten sich damals viele Medienbeobachter?

Mittlerweile ist die Stimmung in Deutschland tatsächlich eine andere geworden. Die AfD wird am Wochenende aller Vorausssicht nach in drei weitere Landtage einziehen. Das Bild-Publikum glaubte schon im vergangenen Oktober nicht mehr ans „Wir schaffen das". Bei einer Leserbefragung antworteten 90 Prozent mit „Nein": 90 Prozent gegen den Flüchtlingskurs von Angela Merkel, 90 Prozent für die Seehofer'schen Obergrenzen. Und Bild? Macht mit ihrer flüchtlingsfreundlichen Linie weiter.

Persönliche Überzeugungen

Wie kommt es, dass Bild und B.Z. derart an der eigenen Leserschaft vorbeipublizieren? Dass die Haltung dieser Blätter von der ihrer Leser grundverschieden ist? Und das in Zeiten, in denen es den Printmedien, und eben auch dem Boulevardjournalismus, schlechter geht denn je? „Es ist nicht Aufgabe eines Mediums, auf der Linie der Leser oder der Regierung oder der Opposition zu publizieren. Das eine wäre Anbiederungsjournalismus, das andere Duckmäuserei und beides verheerend", sagte B.Z.-Chefredakteur Peter Huth dem Freitag. Und Kai Diekmann, ehemaliger Chefredakteur und Herausgeber von Bild, teilte auf Anfrage mit: „Es geht hier um unsere tiefe Überzeugung, die in Teilen der Bevölkerung nicht mal besonders populär ist. Die haben wir bisher nicht an Wahlergebnissen ausgerichtet und werden es auch in Zukunft nicht tun."

Offensichtlich ist die derzeitige Linie der Bild-Zeitung auch den persönlichen Überzeugungen der leitenden Redakteure geschuldet. „ Bild hat sich in den letzten Jahren sehr gewandelt", meint Stephan Weichert, Professor für Journalismus an der Macromedia-Universität in Hamburg. „Unter Diekmann und jetzt Tanit Koch hat sich die Zeitung wegbewegt von einer konservativen Haltung rechts der Mitte, die sie noch in den 80ern und 90ern hatte. Allerdings ist gleichzeitig auch der Einfluss der Bild mit dem Auflagenverlust geschwunden."

Diekmann oder bild.de-Chefredakteur Julian Reichelt bekräftigen ihre Haltung jedenfalls auch privat. Ersterer hat eine Flüchtlingsfamilie bei sich zu Hause aufgenommen, Letzterer demontierte den CSU-Politiker Philipp Lengsfeld rhetorisch, nachdem dieser gewarnt hatte, die „Wir helfen"-Aktion könne als „Einladung zum Aufbruch nach Deutschland" verstanden werden: „Kümmern Sie sich um das, wofür Sie gewählt wurden ...", antwortete Reichelt, der auch diese Woche wieder dezidiert kommentiert: „Warum ich kein Europa hinter Stacheldraht will."

Die Haltung von Bild und B.Z. überrascht und verwundert viele. Haben wir es mit der Wandlung eines Saulus zum Paulus zu tun? Ganz so einfach ist es wohl nicht. „Die einzige Haltung, die die Bild hat: Wie können wir aus dieser Krise am meisten Geld machen. Alles andere ist Heuchelei", warnt Mats Schönauer. Er beschäftigt sich als Chefredakteur von bildblog.de damit, die Methoden der Zeitung zu beobachten. „Ich werfe Bild-Mitarbeitern nicht vor, sie persönlich würden Flüchtlinge hassen. Aber der Ton macht die Musik. Und den einzigen Ton, den die Bild kennt, ist Angst." So sei etwa die „Wir helfen"-Aktion nur ein kleiner Teil der kruden Bild-Realität.

Zwischen den herzerwärmenden Schlagzeilen gebe es nämlich noch immer Schreckensmeldungen, Überschriften an der Grenze zur Geschmacklosigkeit, und es würden noch immer Ängste geschürt, sagt Schönauer. Etwa mit Zeilen wie dieser: „So viel Geld bekommen Flüchtlinge in Deutschland!" Oder: „Nehmen uns Flüchtlinge die Arbeitsplätze weg?" Oder auch: „7 Wahrheiten über Flüchtlinge > Jobs > Kriminalität > Geld". Und wenn sich unter den Panik-Überschriften dann oft aufklärerische Berichte auftun? Egal, findet der Beobachter. „Die Leute reagieren auf Schlagzeilen. Pegida und AfD teilen das, die Leute bekommen Angst und Bild Klicks. Das ist die Strategie. Das Klima in Deutschland wird so vergiftet."

Sehnsucht nach Seriosität

Wenn man also genauer hinschaut und nur ein, zwei Saisons zurückblättert, gewinnt man den Eindruck, dass die Bild das Fundament für den neuen (alten) Hass doch mitgeschaffen hat. Ein Beispiel aus dem September 2014 zeigt dies. Bild Dresden macht auf mit der Zeile: „Aus Angst vor Attacken im Asyl-Hotel: Sanitäter tragen schon Schutzwesten". Das ist falsch, wie das DRK später bestätigen wird. Rettungswesten seien angeschafft worden, um das Personal ganz allgemein zu schützen, bei allen Einsätzen, unabhängig von deren Ort. Doch die Lüge ist erst einmal in der Welt - und in den Kommentarspalten ergießt sich schwallweise der Hass. Übrigens ging es damals um Bautzen. Ja, um das Bautzen, in dem jetzt wieder die Brandstifter unterwegs sind.

Ist es das Gewissen, das die Bild-Macher jetzt in diesen Wochen zwickt? Ist es ein Versuch, die Geister, die man selbst mit rief, wieder zu vertreiben, bevor die Lage weiter eskaliert? In den 60ern, als die Bild mit ihren Kampagnen die Massen wahrhaft elektrisierte, hieß es nach dem tödlichen Polizeischuss auf den Studenten Benno Ohnesorg 1967:„ Bild schoss mit!" Es folgte der Ruf: „Enteignet Springer!" Seit ein paar Jahren sucht Springer die Versöhnung mit den alten Gegnern der 68er Ära, vielleicht spielt auch etwas von diesem Imagetransfer in die aktuelle Blattlinie mit hinein.

Fakt ist: Die Auflagen sinken im gesamten Printmarkt drastisch, auch bei Springer. Allein im letzten Quartal von 2015 verlor die Bild-Zeitung zehn Prozent ihrer Auflage im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. In der Ära Diekmann halbierte sich die Auflage von über vier auf nun knapp 1,8 Millionen Exemplare. Bei der B.Z. sieht es ähnlich aus. Vor diesen Realtitäten betrachtet, kann man die unverhofft deutliche #refugeeswelcome- Haltung als ein letztes Aufbäumen lesen, eine letzte starke Pose vor dem Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit.

Oder handelt es sich auch um einen Neustart? Wenn ja, wäre es ein Neustart, den der Strukturwandel der Medien erzwingt. Bei Springer wird jener Wandel genau beobachtet. Und konsequent verfolgt, nach dem Motto: weg vom Print, rein ins Internet. Fakt ist, wer im Internet Panik schürt, ist heute nur einer von vielen. „Für mich funktioniert Facebook wie die neue Bild. Für emotionale Ansprachen brauchen die Leute keine Boulevardzeitung mehr. Dieses Modell ist heute überholt", sagt Medienprofessor Stephan Weichert. Die Bild will ernst genommen werden, will ein Profil: verantwortungsbewusst, aufklärerisch, seriös. So soll das aussehen.

Es scheint fast so, als ob die partielle Befreiung vom Auflagendruck, als ob der Verlust der Meinungsmacht, den herkömmliche Medien erleiden, das (einstige) schwarze Schaf des Journalismus zum Besseren gewandelt hat. Aber ist das wirklich die Zukunft? Boulevardjournalismus für die gute Sache? Eine zu schöne Vorstellung.

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