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Stadtleben versus Landflucht | Mein Plädoyer für ein Leben in der Stadt

Mich zieht ein Faden jeden Morgen aus dem Bett. Das Rattern der Fahrräder über das Kopfsteinpflaster, das Läuten der Kirche zwei Ecken weiter, das leise Surren der Elektroroller, das Klingeln der Tram, das Hupen, das Bellen, der Blumenlaster, der sich durch die Straße quält.


Meinen Morgenkaffee trinke ich im Stehen, mit Blick aus dem Fenster. Die Zeitungskästen klappern auf und zu, die Straßenreinigung vollführt Pirouetten um den Platz an der Kreuzung. Die Sonne spiegelt sich im Mansardenfenster gegenüber, der Regen prasselt gegen meine Scheibe. Schlendern und Verweilen kann ich nur da draußen, da unten, dort, wo das Leben stattfindet. Der Kaffee bleibt achtlos stehen, ich bin schon auf der Straße, ich darf nichts verpassen und doch will ich am liebsten nichts erleben.


Ich biege nach links, ich nehme die Treppen, mein Weg führt mich ziellos und zugleich bestimmt an einen Ort. Ich lasse mich treiben, ich lasse mich rufen, ich folge dem leisen Ziehen und Zerren, ich gehe in der Stadt verloren. Mein Labyrinth hat jeden Tag ein neues Zentrum, die Straßen führen mich voran, ich laufe, ich sehe, ich schmecke. Das Viertel ist mir längst vertraut, ich muss nicht mehr hinschauen, um mich zurechtzufinden. Mich lenkt meine Neugier, die Stadt verspricht mehr, das Buch in meiner Tasche bleibt heute ungelesen.


Da vorne ist das Café, in das ich mich setze. Wie ich hierher gekommen bin? Meine Schritte sind ohne Absicht, die Choreographie meines Weges ist immer verschlungen. Auf Umwegen, in Nebenstraßen, durch Hinterhöfe erkunde ich, was mir längst bekannt ist, mit neuen Augen. I n der Stadt hält jede Straßenecke eine neue Überraschung bereit. Man muss sie nur sehen wollen. Von meinem Platz aus überblicke ich die Szenerie um mich herum. Ich bin mittendrin ohne Teil zu sein, Beobachterin von außen, und längst im Irrgarten gefangen.


Ich bin eine von vielen im Großstadtgewirr, kann mich in jedem Stadtteil neu erfinden. Meine Identität wechselt ihre Couleur mit der Haltestelle, die auf der nächsten Tram steht, in die ich steige. Wer ist mein stetiger Begleiter auf meinem Weg ins Ungewisse? Ein unsichtbarer Faden zieht sich durch die Straßenzüge, an Schienen entlang, durch Unterführungen, über Brücken. Die Sonne versinkt glühend auf dem Eisenbahngelände, es riecht nach warmem Metall. Die Regenwolken haben sich hinter die Spiegelfronten der Hochhäuser verzogen, vom Kanal rauscht es leise.


Der Tag rollt sich von hinten auf, der Abendwind weht mir die Haare ins Gesicht. Meine Schritte führen rückwärts nach Hause. Ich lasse den Aufzug links liegen, ich wohne über den Dächern der Stadt, gegenüber gehen die ersten Lichter an. Der Pizzaservice klingelt falsch, der Briefkasten ist gefüllt mit Werbung, ich kehre von meinen Abenteuern zurück. Die letzten Stufen noch, die Wohnungstür geht auf. Ich bleibe an einem Faden hängen. Der Morgen dämmert schon? Ein neuer Tag beginnt.



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