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Dieses Unten

Foto: JIM LO SCALZO/EPA

Amerikanische Gerichtssäle gelten als verlässliche Quotenbringer. Nirgends lässt sich besser von den Abgründen des Menschen erzählen, als wenn Staatsanwälte und Verteidiger wortreich um die Gunst der Grand Jury kämpfen. Doch was, wenn es gar keinen Kampf gibt? Wenn der Strafverteidiger nicht einmal den Namen seiner Mandantin kennt, geschweige denn über die Hintergründe und Bewegmotive ihrer Tat Bescheid weiß? Dann zerbröselt auf einmal der Topos vom Gerichtssaal als demokratischer Bühne, und wir befinden uns nicht mehr in der durchorchestrierten Welt von Netflix-Serien, sondern mitten in der weniger telegenen amerikanischen Realität. Von dieser handelt Rachel Kushners neuer Roman Ich bin ein Schicksal. Es ist die Geschichte von Romy Hall, einer jungen Mutter, die zu zweimal lebenslänglich und sechs Jahren Haft verurteilt wird, weil sie ihren Stalker auf ihrer Veranda erschlagen hat.

Und so sitzt Romy eines Morgens an ihre Mitinsassinnen gekettet in einem Gefangenentransporter. Ein paar der Frauen sind in extra Käfigen untergebracht, einige sind minderjährig, schwanger oder beides. Draußen wechseln sich Mandelbaumplantagen mit menschenleeren Ortschaften ab, es ist noch früh – den Anwohnern soll der Anblick der Frauen erspart bleiben.


Strukturelle Brutalität

Rachel Kushner, die bereits mit ihren zwei Vorgängerromanen bewiesen hat, dass sie eine Meisterin des Weltenerschaffens ist (das Kuba der 1950er Jahre in Telex aus Kuba und das New York der 1970er Jahre in Flammenwerfer) und damit zweimal knapp am amerikanischen National Book Award vorbeigeschrammt ist, richtet in ihrem dritten Roman den Blick an den Rand der Gesellschaft und trifft dabei ziemlich brutal ins Herz der amerikanischen Gegenwart.

Für die Recherche hat Kushner vier Jahre lang regelmäßig Strafprozesse und Frauengefängnisse besucht. Eine der ehemaligen Insassinnen ist zur Freundin und Beraterin für das Buch geworden. Das zeigt sich in den detailgenauen Schilderungen von Tagesabläufen, in der Beschreibung des sozialen Gefüges und der nüchternen Wiedergabe einer dauerpräsenten, strukturellen Brutalität. Die Messlatte für diese Brutalität wird gleich zu Beginn gesetzt, als, gerade im Gefängnis angekommen, bei einem Mädchen die Wehen einsetzen und ihm niemand zu Hilfe kommt. Während das Mädchen auf dem blanken Gefängnisboden vor den Augen aller ihr Kind zur Welt bringen, bugsieren nur einige Meter weiter Gefängniswärter die Leiche einer Frau an der Szenerie vorbei.


Dass das Leben außerhalb des Gefängnisses für die meisten Frauen nicht unbedingt besser war, erfahren wir im weiteren Verlauf. Denn genau in dieses Leben dringt Kushner vor. Es ist ein Leben, von dem man sonst nur wenig erfährt, ziemlich weit unten in der aufstiegsversessenen amerikanischen Gesellschaft.

Dieses Unten definiert sich durch das, was Romy unter „die Anderen“ versteht. „Die Anderen“, das sind nicht die reichen Eliten von der Ostküste oder die Start-up-Enthusiasten, die gerade dabei sind, das Bild ihrer Heimatstadt San Francisco zu verändern. Für Romy sind „die Anderen“ Leute mit Jobs, geringfügigem Drogenkonsum und einem geregelten Alltag. Zu denen zählt sie sich nicht und sie kennt auch niemanden, der dazugehören könnte.

Zu all den ohnehin schon ungünstigen Umständen, unter denen Romy aufwächst – das Leben in einem tristen Viertel, eine Mutter, die keine sein will, in der 6. Klasse beginnt sie, LSD mit Angel Haze zu mischen) –, kommt erschwerend hinzu, dass Romy eine Frau ist. Mit elf Jahren gerät sie das erste Mal an einem Mann, „der wie ein Vater aussah“ und sie mit aufs Hotelzimmer nimmt. Vergewaltigung? Das Wort kommt ihr nicht über die Lippen. „Pech gehabt“ schon eher.

Anhand von Romys Biografie seziert Kushner scheinbar ganz beiläufig das ganze Arsenal amerikanischer Missstände. Nach und nach kondensieren sich die Geschichten so zu einer Kritik an einem System, in dem Frauen, denen nie jemand gesagt hat: „Pass auf dich auf“, gnadenlos bestraft werden.


Geld gegen Körper

In Romys Leben tauchten Erwachsene nie als verlässliche Ansprechpartner auf, sondern entweder als Vorboten einer deprimierenden Zukunft (als drogenabhängige oder alkoholkranke Eltern) oder als Männer, die sie sexuell ausbeuten. Die Frauen lernen also früh, dass sie etwas besitzen, das die Männer begehren. So wird für viele von ihnen das Tauschgeschäft Geld gegen Körper zum Beruf, und wieder gibt es niemanden, der ihnen sagt, was für ein ungleicher Deal das ist.

Und so ist The Mars Room – der Titel des englischen Originals – der Name des Strip-Clubs, in dem Romy einen großen Teil ihres Erwachsenenlebens verbringt und wo ihr Schicksal insofern besiegelt wird, als dass sie dort zum ersten Mal auf ihren Stalker trifft.

Der deutsche Titel Ich bin ein Schicksal wirkt im Vergleich zwar etwas plumper, verweist indessen aber auf eine Entwicklung, die selten Beachtung findet. Die Zahl der inhaftierten Frauen in den USA ist Angaben der NGO The Sentencing Project zufolge seit 1980 von 26.378 auf 225.060 im Jahr 2017 um 700 Prozent gestiegen.

Während der Diskurs darüber, wer in einem neoliberalen System eine Chance hat aufzusteigen, einigermaßen breit geführt wird, wurde bisher kaum darüber gesprochen, dass der Weg nach unten ebenso ungeschriebenen Regeln folgt wie der nach oben. Rachel Kushner hat das nun auf kluge und feinfühlige Weise getan.

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