Zwei Dinge prägen bis heute das Leben des 1933 in London als Sohn eines jüdischen Arztehepaars geborenen Oliver Sacks: Seine Homosexualität, die er erst seit kurzem öffentlich bekennt, und seine Leidenschaft für Literatur, die seinen naturwissenschaftlichen Forscherdrang von Beginn an flankiert. Die Homosexualität versetzt ihn früh in den Status eines von Schuldgefühlen geplagten Außenseiters. Mit 18 hat ihn sein Vater gefragt, ob ihm Jungen lieber seien als Mädchen.
"'Ja - aber es ist nur ein Gefühl - ich habe noch nie etwas getan'. Und ängstlich fügte ich hinzu: 'Sag Ma nichts - sie würde es nicht verkraften.' Doch mein Vater sagte es ihr, und am nächsten Morgen kam sie mit grauenhaft ergrimmter Miene herunter, einer Miene, die ich noch nie zuvor an ihr gesehen hatte. 'Du bist ein Gräuel', sagte sie. 'Ich wünschte, du wärest nie geboren worden.'"
Späte LiebeDie harsche Reaktion der Mutter wirkt nachhaltig: Oliver Sacks leistet sich nur ein paar sehr flüchtige Affären und baut erst mit 75 Jahren eine erste veritable Bindung auf: zu dem Schriftsteller Billy Hayes, dem er jetzt auch seine Autobiografie gewidmet hat. Wissenschaft, Einsamkeit und ein starkes Faible für alles Extreme, sei es beim Drogenmissbrauch - Sacks braucht lange, um von den Amphetaminen wieder loszukommen, beim Bodybuilding - Sacks Messlatte beim Gewichtheben sind die Weltmeister - oder bei gefährlichen Motorradtouren durch die Staaten prägen stattdessen sein Leben. Und natürlich seine ungeheure Leidenschaft für persönliche Geschichten, für Fallgeschichten und klinische Biografien.
Wissenschaftler und GeschichtenerzählerSchon vor seinem Examen in Oxford begreift Sacks die Bedeutung der Anteilnahme und der auf Einfühlungsvermögen gegründeten Fallbeschreibung für die Patienten und die Verläufe neurologischer und psychiatrischer Krankheiten. In den USA arbeitet er an verschiedenen Kliniken in Kalifornien und seit 1965 in New York und schreibt inspiriert von dem Neuropsychologen Alexander R. Lurija, 1973 "Awakenings" / "Zeit des Erwachens". Er schildert darin, wie er mit hochdosierten Medikamenten Menschen, die an der Europäischen Schlafkrankheit leiden, aus ihrer dumpfen, total lethargischen Existenz befreit hat - leider nur vorübergehend -, und was das von Fall zu Fall für die Kranken und ihre Verwandten bedeutete. 1990 wurde "Awakenings" mit Robert De Niro und Robin Williams verfilmt. 1985 veröffentlichte Sacks unter dem Titel: "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" weitere Fallgeschichten, die weltweit seinen Ruhm als Neurologe, Psychiater und Geschichtenerzähler begründen.
Oliver Sacks: "On the Move" Ressource SelbsterfahrungIn seiner jetzt erschienenen Biografie erst zeigt sich, dass so manche Fallgeschichte in Wahrheit seine eigene Geschichte wieder gibt: Etwa "Hundenase" aus "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte". Sie handelt von einem Studenten Stephan D., dessen Geruchssinn durch die Einnahme von Amphetaminen explodiert. In Wirklichkeit war es seine eigene Erfahrung als Amphetaminsüchtiger, aber da Sacks wusste, dass Wissenschaftlern Selbstversuchen eher ablehnend gegenüberstehen, hat er sie Stephan D. zugeschrieben.
Was für Oliver Sacks Fallbeschreibungen so einnimmt, ist sein überall spürbares Bemühen, den erkannten Störungen mit viel Empathie und Entschiedenheit auf den Grund zu gehen. Mit derselben Offenheit und Direktheit geht er in seiner Autobiografie den eigenen Gestörtheiten auf den Grund, was auch den Fall Sacks sehr lesenswert macht.
"Am Silvesterabend hatte ich mitten in einer Amphetamin-Ekstase plötzlich einen hellen Moment, und ich sagte zu mir: "Oliver, du wirst keinen weiteren Neujahrstag mehr erleben, wenn du dir nicht Hilfe holst. Du brauchst irgendeine Intervention." Ich spürte, dass meiner Sucht und Selbstzerstörung tiefe psychologische Störungen zugrunde lagen und dass ich immer wieder zu Drogen greifen und mich über kurz oder lang umbringen würde, wenn diese Probleme nicht angesprochen würden."
Oliver Sacks - eine Auswahl seiner Fallbeschreibungen 1973 "Awakenings" / "Zeit des Erwachens" 1984 "A Leg to Stand on" / "Der Tag, an dem mein Bein fortging" 1985 "The man who mistook his wife for a hat" / "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" 1989 "Seeing Voices: A Journey Into the World of the Deaf" / "Stumme Stimmen - Reise in die Welt der Gehörlosen" 1995 "An Anthropologist on Mars" / "Eine Anthropologin auf dem Mars" 1997 "The Island of the Colourblind" / "Die Insel der Farbenblinden" 2001 "Uncle Tungsten: Memories of a Chemical Boyhood" / "Onkel Wolfram. Erinnerungen" 2007 "Musicophilia. Tales of Music and the Brain" / Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn" 2013 "Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Über Menschen mit Halluzinationen" Diwan