Frauen mit Behinderung werden überdurchschnittlich häufig Opfer sexueller Gewalt. Eine Studie zum Thema löste vor zwei Jahren einen öffentlichen Aufschrei aus. Hat sich seither etwas geändert?
Wenn Lena* Angst hat, verkrampft sich ihr ganzer Körper. Ihre Stimme versagt, um Hilfe rufen kann sie nicht. Trotzdem bleibt die junge Frau nicht stumm, wenn sie sich wehren will: Lena bellt. Sie bellt, wenn wieder jemand zu weit geht und ihre Hilfsbedürftigkeit ausnutzen sollte. Lena, 28, ist geistig behindert und wurde bereits mehrfach sexuell missbraucht.
Es begann in der Förderschule, so berichtet es Bärbel Mickler, eine Sozialpädagogin, die Lena betreut. Mitschüler zogen Lena auf der Toilette aus und zwangen sie zu sexuellen Handlungen. Als das Mädchen seinem Klassenlehrer von dem Vorfall berichtete, lachte er sie aus. Als Jugendliche wohnte Lena in einer betreuten Einrichtung für Mädchen in Hamburg. Dort war es eine ältere Mitbewohnerin, die sie immer wieder sexuell bedrängte. Diesmal erzählte Lena niemandem von dem Missbrauch. Sie schwieg auch, als der Vater einer anderen Mitbewohnerin sich bei mehreren Besuchen an ihr verging. Lena zog sich zurück, sprach kaum noch. Sie mied Körperkontakt, reagierte panisch auf jede Berührung.
"Nach dem Aufschrei ist viel zu wenig passiert"
Ihr Verhalten fiel auf, bei den Betreuern galt Lena als "schwieriger Fall", doch Verdacht schöpfte niemand. Auch nicht, als Lena sich Schnitte an den Armen zufügte und nichts mehr essen wollte. Mit 18 Jahren zog sie zurück zu ihren Eltern in eine Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Der Nachbar war besonders freundlich zu ihr. Als der Mann Lena nach einem Spaziergang in sein Haus einlud, ging sie mit. In dem Haus vergewaltigte er sie, während seine Frau und Kinder im oberen Stockwerk schliefen, so erzählte es Lena ihrer Betreuerin Mickler.
Lenas Geschichte ist bedrückend, doch kein Einzelfall: Körperlich und geistig behinderte Frauen werden in Deutschland zwei- bis dreimal häufiger zu Opfern sexueller Gewalt als alle Frauen im Durchschnitt. Schon in der Kindheit erleben Tausende Mädchen Missbrauch und Gewalt, diese Erfahrungen setzen sich im Erwachsenenleben überproportional oft fort. Gerade Heime sind oft keine sicheren Orte: Mit 31 Prozent sind fast ein Drittel der dort lebenden Frauen von sexuellen Übergriffen betroffen. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2012.
In Lenas Fall schöpfte lange niemand Verdacht: Erst die Mutter eines Mitschülers wurde misstrauisch, sie brachte die damals 19-Jährige zu einer Selbsthilfegruppe. Dort traf Lena auf Bärbel Mickler. Die Sozialpädagogin vermittelte eine Gesprächstherapie und einen Selbstverteidigungskurs für Lena, brachte sie in ein neues Wohnheim. "Sexuelle Gewalt an Behinderten ist ein großes gesellschaftliches Tabu", sagt Mickler.
Sie hat an der Bielefelder Studie mitgearbeitet. Die Forscher benannten dort bereits strukturelle Probleme in der Behindertenhilfe, die sexuelle Gewalt fördern sollen. "Dann gab es einen öffentlichen Aufschrei, doch passiert ist seitdem viel zu wenig", sagt Mickler. So fehle es immer noch in vielen Einrichtungen an Programmen zur Gewaltprävention und Sexualaufklärung.
Das doppelte Dilemma
"Weil Behinderten Sexualität abgesprochen wird, sparen Heime das Thema aus, viele Mitarbeiter sind nicht geschult", sagt Mickler. Immer wieder komme es zu Übergriffen durch meist männliche Mitbewohner, die mit der eigenen Sexualität überfordert seien. Aufklärung sei schwierig: Zum Einen würden typische Symptome der Opfer wie Depressionen, Bettnässen oder Angst vor körperlicher Nähe vom Umfeld als Teil der Behinderung gewertet. Vielen Betroffenen sei oft selbst nicht bewusst, wann Grenzen überschritten wurden, sagt Mickler. Wenn die Betreuer selbst die Täter sind, werde das Thema hingegen bewusst verschwiegen: "Da wird viel weggeschaut, Mitarbeiter decken sich gegenseitig, die Heimleitungen fürchten um ihren Ruf und kehren Missbrauch unter den Teppich", sagt Mickler.
Wenn die Gewalt doch erkannt wird und Hilfe nötig ist, stehen Betroffene vor einem doppelten Dilemma: Behinderteneinrichtungen sind nicht spezialisiert für die Bedürfnisse traumatisierter Frauen. Und in der Frauenhilfe und den Psychiatrien fehlen Fachkräfte für Behinderte. Behindertenvereine wie Weibernetz kritisieren, dass es kaum Stellen gebe, wo behinderte Frauen Schutz finden können. Geeignet wären Frauenhäuser, deren Standorte in der Regel geheim sind. Doch nur zehn Prozent aller Frauenhäuser sind barrierefrei. Einen Raum für Rollstuhlfahrer etwa haben nur 36 der 353 Häuser in ganz Deutschland. Und mit dem barrierefreien Zugang ist es nicht getan. "Wir brauchen Sonderpädagogen oder Gebärdendolmetscher, um den Bedürfnissen der Frauen gerecht zu werden", sagt Heike Herold vom Verein Frauenhauskoordinierung.
Der Wille, die Frauenhäuser für Behinderte zu öffnen, sei zwar da, sagt Herold. Was fehlt, sei das Geld: Seit Jahren klagen die Frauenhäuser über Unterfinanzierung, fordern eine Aufstockung der öffentlichen Mittel - nicht zuletzt, um Barrierefreiheit zu ermöglichen. "Weil wir auf freiwillige Leistungen der Länder und Kommunen angewiesen sind, wird zuerst an den Frauenhäusern gespart", sagt Herold. Die Nachfrage behinderter Frauen nach Plätzen im Frauenhaus steige seit Jahren, doch immer wieder müssten Anfragen abgelehnt werden. Da helfe es auch nicht, dass die Frauenhilfe und Behinderteneinrichtungen seit der Bielefelder Studie besser zusammenarbeiten.
Erfolglose Klage
Tatsächlich öffnen sich immer mehr Beratungsstellen und Notrufe für Frauen mit Behinderung. Wohlfahrtsverbände wie Caritas und Lebenshilfe formulieren Leitlinien zum Umgang mit sexueller Gewalt, in ersten Wohnheimen arbeiten geschulte Frauenbeauftragte. Der Hamburger Behindertenverein Forum setzt auf Selbstbehauptungskurse. Dort lernen behinderte Frauen, wie sie sich auf individuelle Weise verteidigen können. Auch Lena besucht einen Kurs und hat ihre eigene Strategie entwickelt: das Bellen. Weil sie in ihrer Angst kein Wort formulieren, aber Hunde imitieren kann.
Lena erstattete in einem Fall Anzeige, den Vater ihrer Mitbewohnerin brachte sie vor Gericht. Doch am Ende scheiterte das Verfahren: Lena wurde als unglaubwürdig eingestuft, der Angeklagte wurde freigesprochen. Das passiert behinderten Frauen oft, weiß Julia Zinsmeister, Professorin am Institut für Soziales Recht der Fachhochschule Köln. "Gemessen an der Zahl der Übergriffe kommt es äußerst selten zu Strafanzeigen und noch seltener zu Verurteilungen", sagt sie. "Im Strafverfahren ist das Tatopfer meist die einzige Zeugin, ihre Aussage bietet die Hauptangriffsfläche für die Strafverteidigung. Den hohen Anforderungen können viele Verletzte nicht entsprechen und scheitern im Verfahren."
Menschen mit Behinderungen werde der Weg zum Rechtsschutz in vielfältiger Form verwehrt, sagt Zinsmeister. Das beginne damit, dass Betroffene nicht ausreichend über ihre Rechte und Hilfsangebote informiert würden. Beratungsstellen könnten dabei helfen. Doch auch Zinsmeister sieht hier das größte Problem: "Zahlreiche Unterstützungsangebote mussten nach drei Jahren wieder eingestellt werden, weil sie von der öffentlichen Hand nur als Modellprojekt finanziert wurden. Das Engagement dieser Hilfsstellen scheitert an ihrer unsicheren, prekären finanziellen Situation", sagt Zinsmeister.
Lena bekam keinen Platz im Frauenhaus. Heute lebt sie in einem Wohnheim am Rande Hamburgs, sexuell missbraucht wurde sie seit der öffentlichen Anklage nicht mehr. "So weit ich weiß", sagt Bärbel Mickler. Doch der psychische Schaden bleibt, Lena ist immer noch in Therapie.
* Name von der Redaktion geändert
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