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Haltet die Welt an

Barbara Giuntoni arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren im Marmorsektor. Mit ihren Ideen zu Gleichberechtigung und Umweltschutz eckt sie an. Doch aufgeben kommt nicht in Frage.

Barbara Giuntoni verdient ihre Brötchen mit Marmor: Sie verkauft ihren Kunden Bodenplatten, Blöcke und Architekturteile, für Badezimmer, Gärten, Fassaden und Co.Vieles davon ist maschinell hergestellt und wird zum Schluss noch manuell überarbeitet. Doch die eigentliche Leidenschaft der gebürtigen Toskanerin gilt ihren Designprojekten. Unter dem Namen Marba Marmi recycelt die 49-Jährige dafür meist Restmaterial. Auch nach mehr als zwanzig Jahren ist sie noch auf der Suche: nach dem rechten Platz in der von Männern dominierten, italienischen Designwelt. Und nach Käufern, denen ihr Konzept der nachhaltigen Produktion einleuchtet. Schon als kleines Mädchen liebt Giuntoni die Stille. Davon gibt es in Fossone, einem kleinen Dorf in den Hügeln oberhalb Carraras, reichlich. Giuntoni ist ein Draußen-Kind, geht gern in den Wald, spielt viel am Wasser. Oder schaut ihrem Vater Marino zu, der als Heizungstechniker arbeitet und ein immerzu erfindender Bastler ist. Sein Rat an seine Tochter: Die Natur ist der beste Lehrmeister. Willst du etwas über Formen lernen, dann schau es dir bei ihr ab. Für Marmor als Material und die Industrie dahinter interessiert sich Giuntoni als Kind nicht. Doch sie erinnert sich an ein prägendes Möbelstück aus Marmor: den Küchentisch in ihrem Elternhaus, aus Bianco Carrara, gezeichnet vom lebhaften Alltag. Er wird nicht geschont, die Mutter knetet dort Nudeln, bügelt und bäckt, Giuntoni und ihre Brüder machen Hausaufgaben, spielen und turnen auf ihm herum. Mit den Jahrzehnten bekommt der Tisch eine, wie Giuntoni es nennt, „Vintage-Politur“.

Sie selbst macht sich als junge Berufsstarterin schnell selbstständig, zunächst mit einer kleinen Boutique für Möbel. Der große Erfolg bleibt aus, deshalb wendet Giuntoni sich dem Interieurdesign zu, beginnt, die Innenräume von Villen in der Region umzugestalten, später auch in Frankreich und Belgien. Doch wirkliche Erfüllung findet sie dabei nicht. „Meine Stadt drängte mich schließlich zu einer Rückwärtsreise. Weg von den fertigen Villen, zurück zu den Rohstoffen.“ Giuntoni, die mit den Marmorbrüchen in direkter Nachbarschaft aufwächst, lernt sie erst als junge Erwachsene richtig kennen – „mit all ihren Qualitäten und Problemen“. Sie ist fasziniert von der Aussicht in den Marmorbergen und der Schönheit des Materials. Sie spricht mit Arbeitern, die seit Jahr- zehnten abbauen, mit Handwerkern und Bildhauern. Und sie beobachtet die immense Ausbeute, die unzähligen Blöcke, die schwere LKW tagtäglich die engen Schotterpisten hinunter transportieren. "Ich träume seitdem von einem Marmorabbau, der das Timing der Natur respektiert. Den traditionellen Blick toskanischer Künstler auf das Material als etwas, das es zu entdecken gilt, haben wir weitestgehend verloren. Es gibt Tonnen abgebauter Blöcke, die nur darauf warten, dass jemand sie nutzt. Wir müssen nicht immer schneller immer mehr Material gewinnen.“ Denn Marmor sei eigentlich zeitlos – die Trends, die der Markt hervorbringt und wieder begräbt, widerstreben der Designerin. „In der Mode lassen sich Designer zum Beispiel von früheren Formen und Schnitten inspirieren. Warum soll das beim Interieur-Design nicht gehen?“ 

KRITIK AM MARMOR-MARKT 

Der überwiegend männliche Marmorsektor ist teils sexistisch und wenig vorausschauend, so sieht es Barbara Giuntoni. Sie glaubt, als Mann hätte sie vielleicht mehr Chancen gehabt in ihrem Berufsleben. Doch den Kopf in den Sand stecken, verstummen will sie nicht. Sie plädiert nachdrücklich für einen verlangsamten Abbau. Kritisiert, dass viele Bruchbetreiber nur die Filetstücken aus den Bergen sägen. Giuntoni selbst ist eifrige Sammlerin, lagert verschiedenste Blöcke und Platten auf einer Mietfläche ein und teilt mit Freunden eine Werkstatt, in der sie Materialien testet und an ihren Objekten arbeitet. Maschinen besitzt sie keine, Mitarbeiter beschäftigt sie auch nicht. Auch in der Gemeinschaftswerkstatt gibt es weder CNC-Säge noch sonstige Bearbeitungsmaschinen. Zu unsicher seien die Zeiten im Natursteinsektor für kleine Firmen wie ihre. Wenn nötig, wendet sich Giuntoni an eines der in Carrara ansässigen Unter- nehmen, die sich darauf spezialisiert haben, anderen maschinell zuzuarbeiten. 

Dass kaum noch jemand die sonstigen Kalkstein-Vorkommen der Region nachfragt, dass sie selbst Objekte aus Marmor „zweiter Klasse“ schwer verkauft bekommt und die Keramik-Branche, die Marmor-Optiken zu einem Drittel des Preises nachahmt, auf dem Vormarsch ist – für Giuntoni alles Konsequenzen aus dem Verhalten der Unternehmer in Carrara und der regionalen Wirtschaftspolitik. Dass mehr und mehr chinesische Akteure in den regionalen Markt drängen, kritisiert sie harsch. „Ein so exklusives und kostbares Produkt wie Marmor sollte vollständig vor Ort verarbeitet werden. Dafür bräuchten wir eine Kommunalpolitik, die den Abbau streng regelt und uns Bürger vor Ort schützt. Marmorgewinnung und -verarbeitung ist unsere Geschichte. Unsere wirtschaftliche Vergangenheit basiert auf der Marmorgewinnung, von Großprojekten bis zum kleinen Hersteller von Dekorationsgegenständen. Dass es erlaubt ist, Marmor ohne Kontrollen und die Einhaltung unserer Markgesetze zu exportieren, ruiniert unsere Branche vor Ort.“ Carrara verkomme zu einer Art Kulissenstadt, sagt Giuntoni. Einer Stadt mit vielen Alten und immer weniger Jungen, die keine Jobs finden, weil viele kleine Handwerksbetriebe schließen. 

ZWEI JAHRE ABBAU-STOPP 

Giuntoni hat auch eine Vision, wie der Markt in Carrara zu retten wäre: Mehr staatliche Kontrollen zum einen. Vor allem aber: eine Pause vom Abbau. „Ich glaube wirklich, dass es helfen könnte, alle Steinbrüche vorübergehend zu schließen. Mindestens zwei Jahre lang. Innezuhalten, die Förderpläne nachhaltig umzustrukturieren und alle Mitarbeiter in dieser Pause damit zu beschäftigen, stillgelegte Strukturen zu aktivieren, die noch gar nicht ausgebeutet sind und die Blöcke zu verarbeiten, die seit langem in den Lagerstätten liegen. Pausen sind gut, um neue Ideen zu finden. Und in Carrara brauchen wir dringend neue Ideen.“ Sagt Giuntoni. Und man ahnt, dass sie es nicht leicht hat in dieser Branche, die vieles will, aber sicher nicht anhalten. Als Einzelunternehmerin muss Giuntoni, das ist die andere Seite der Medaille, genau überlegen, wie sie zwischen Kunst und Brotjob die Waage hält. Und für beides ist sie auf externe Partner angewiesen. Vielleicht ist das Tal zu klein für ihre großen Visionen. 
2018 beschließt sie – nicht zum ersten Mal – sich anderswo Verbündete zu suchen. Kontakte zu Nachhaltigen will sie auf der Marmomac knüpfen. Dort stellt sie, stilecht in einem Seecontainer, ihr Projekt „Save an Elephant“ aus: Stoßzähne aus Marmor, für die kein Elefant sterben muss. Inszeniert wie eine echte Präsentation von Jagdtrophäen. 

Die Idee für die Zähne hat Giuntoni, als sie die Reststücke sieht, die beim Sägen eines Kundenprojektes entstehen: halbrunde Abfälle, die sie wiederverwenden will, um Elefanten das Leben zu retten. Allein: Obwohl die Idee auf der Marmomac positiv aufgenommen wird, finden sich kaum Kooperationspartner. Das Hafenmuseum in Portofino stellt zwei große Zahn-Skulpturen aus, auch eine Galerie in Paris, doch der große Andrang bleibt aus. „Ich merke, dass es schwierig ist, Menschen für Umwelt- und Tierschutz-Themen zu sensibilisieren. Aber ich gebe das Projekt nicht auf. Ich glaube, dass sein Hoch noch kommen wird.“ 

UNIKATE AUS UNBEKANNTEN MARMOR-SORTEN 

Ihre Designobjekte fertigt sie weiter fast ausschließlich aus Material, das in der Marmorproduktion als Abfall gilt. „Ich verfolge immer den gesamten Produktionsprozess, von der Auswahl der Marmorblöcke im Steinbruch bis hin zur Entscheidung, wie man sie bearbeitet. Wenn ich ein neues Material aufnehme, teste ich es selbst mit Handwerkzeugen.“ In den Brüchen, so erzählt Giuntoni, hält sie nicht nach perfekten Blöcken Ausschau. „Ich mag an Naturstein ja gerade, dass er unregelmäßig ist. Auch wenn das nicht das ist, was der Markt verlangt.“ Gutes Design zeichnet sich nicht durch Gefälligkeit aus, findet die Italienerin. Es soll „die Realität originalgetreu wiedergeben, wie eine Fotografie“. 

Ihre Design-Objekte behandelt sie deshalb auch nicht mit Chemikalien wie Farbvertiefern. Sie mag unregelmäßige Verläufe im Marmor und versucht häufig, die „Muster“, die sie im Steinbruch sieht, bei ihren Objekten nachzubilden. Giuntoni ist sicher, dass jedes Material für ganz be- stimmte Projekte geeignet ist – aber den meisten Anwendern das nötige Wissen über die Varietäten fehlt. „Es gibt viele Naturstein-Arten, die kaum bekannt sind, obwohl sie, mit geeigneter Oberflächenbearbeitung und im richtigen Format, erstaunliche Wirkung entfalten könnten.“ Eines ist sicher: Giuntonis Weg bleibt steinig, im doppelten Sinne. ■ 

DIE TESTSTRECKEN
In Italien gibt es nur wenige Test- strecken für Rennfahrer und Fahrsicherheitstrainings, sagt Giuntoni. Sie hat beim Projekt Stone Track eine Teststrecke mit Marmor als Bodenbelag konzipiert, die saisonunabhängig funktionieren und preiswert anzulegen sein soll. Bislang schlummert das Projekt als Idee in ihrer Schublade. 

DIE STOSSZÄHNE
Marmor, so Giuntoni, eignet sich perfekt, um Elfenbein zu ersetzen, ohne die Wirkung der daraus entstehenden Kunstwerke zu schmälern. Beide Materialien teilen einige Attribute: einzig- artig, kostbar, weiß, natürlich. Für ihr Projekt „Save an elephant“ hat sie viele Unikate produziert, denn auch Stoßzähne gleichen einander nur oberflächlich. 

DER BLEISTIFT
„Jedes Kind macht seine Zeichen-Anfänge mit einem Blei- stift. Auch ich liebe noch immer den Klang, den Graphit auf Papier macht. In einer Welt, in der Menschen ständig mit Handys und anderen Geräten schreiben, will ich an die evokatorische Kraft der Handschrift erinnern. Der Stift als analoges Schreibgerät repräsentiert sie.“ 

Zum Original-Beitrag (Issuu-Vorschau S. 18-19): https://www.stein-magazin.de/zeitschriften/stein2-2020/