Das Getriebe am Fahnenmast klemmt. Ausgerechnet heute, wo das
dänische Staatsfernsehen gekommen ist. Die Bewohner des
Studentenwohnheims „4.Mai“ in Aarhus singen einfach weiter: „Im Osten
geht die Sonne auf.“ Es sind kaum zehn Grad an diesem Montagmorgen, kurz
vor acht Uhr. Einige Studierende tragen noch Jogginghosen und gähnen in
ihre Gesangsbücher, als mit jedem Quietschen und Knarren die rot-weiße
Flagge Dänemarks ein Stückchen höher über ihren Köpfen schwebt. Zu
schnell! Das Frühstücksfernsehen war noch nicht bereit für die
Live-Schalte. Also Fahne wieder runter, ein neues Lied: „Kämpfe für
alles was du liebst, auch wenn du dafür sterben muss.“
Musikstudentin Karen Sofie hat den braunen Mantel um sich
geschlungen. Beim Singen in der Gruppe, sagt sie, bleibe die Zeit
stehen. Die 23-Jährige war im Planungskomitee für den heutigen Festtag,
der im 75. Jubiläumsjahr wegen Corona etwas kleiner ausfallen muss.
Dabei hatte sich Karen Sofie so auf den 4. Mai gefreut, als sie im
September vergangenen Jahres in das Wohnheim eingezogen ist. Denn wer
hier lebt, den verbindet mehr mit seinen Mitbewohnern als die Handseife
im Gemeinschaftsbad: Sie alle sind Nachkommen von Widerstandskämpfern,
die sich im Zweiten Weltkrieg gegen die deutsche Besatzung Dänemarks
auflehnten. Bis zum 4. Mai 1945, als Nazideutschland kurz vor der
Niederlage seine Truppen abzog.
Acht solcher „4. Mai Gemeinschaften“ gibt es in ganz Dänemark,
gegründet kurz nach dem Ende des Krieges und der fünfjährigen Besatzung
durch die Deutschen. Damals sammelten dänische Politiker und
Intellektuelle Spenden für einen „Freiheitsfond“, um Familien getöteter
Widerstandskämpfer zu unterstützen. Aber sie suchten auch nach Wegen, um
das Andenken an den Widerstand gegen die Nazis zu bewahren. Statt das
Geld in Denkmäler zu stecken, wurden Wohnheime gebaut. Die Idee:
Finanzielle Entlastung für junge Widerständler und ihre direkten
Nachkommen während sie eine Ausbildung machen oder studieren. Nach über
sieben Jahrzehnte sind es heute die Enkel und Ur-Enkel, die von diesem
Privileg Gebrauch machen.
Katarina, 26, ist eine von ihnen. Sie wohnt im selben Trakt wie
Musikstudentin Karen Sofie. Zwei Tage vor der großen Zeremonie am 4. Mai
führt Katarina am Samstagmorgen durch den Eingangsbereich des
schlauchförmigen Backsteingebäudes, links vorbei am Gemeinschaftsraum,
wo ihre Mitbewohner zwischen Kicker und Hula-Hoop-Glitzerreifen die
letzten Lieder einstudieren, raus in den Innenhof mit dem Fahnenmast und
seinen Picknickbänken.
Aarhus, die zweitgrößte Stadt Dänemarks, schmückt sich mit dem
inoffiziellen Titel „Hauptstadt der Jugend“. Dreizehn Prozent der 315
000 Einwohner sind Studierende, der gnadenlose Wohnungsmarkt verhagelt
so manchem Ersti den Semesterstart. Und selbst im „4. Mai“ gibt es eine
Warteliste mit derzeit 91 Plätzen. Auch als nicht Widerstands-Nachkomme
kann man sich bewerben, direkte Nachkommen haben aber den Vorrang und
rücken automatisch an den Beginn der Warteliste. Und da die Anzahl der
Nachkommen mit jeder Generation wächst, ist es in beliebten Städten wir
Aarhus unwahrscheinlich, dass man ohne Widerstands-Erbe an eines der
begehrten Zimmer kommt.
„Für mich ist es eine Ehre, hier zu wohnen“, sagt Katarina. Bereits ihre Mutter kam während ihres Studiums im „4. Mai“ unter, so sei das bei vielen ihrer Mitbewohner. Sie alle müssen einen schriftlichen Nachweis erbringen, dass ihre direkten Vorfahren am Widerstand beteiligt waren. In Katarinas Fall ist es ihre Großmutter Else, wegen der sie im Wohnheim einen Platz bekam und die während der Besatzung illegale Flugblätter in die Türschlitze der Zivilbevölkerung stopfte. Damit unterstützte sie ihren Bruder Johan Mouritsen, der in der Datenbank des Dänischen Nationalmuseums in Kopenhagen als Widerstandskämpfer gelistet ist.
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