Ihm, dem Unergründlichen, nähert sich Monika Helfer nun. Weil er, wie so viele Väter in dieser Zeit, nicht viel von sich erzählte, stützt sie sich auf Anekdoten von inzwischen verstorbenen Familienmitgliedern. In der zentralen Erzähl-Ebene legt sie ihre Quellen stets offen und macht gleichzeitig keinen Hehl daraus, dass sie dem, was sie weiß, Erfundenes hinzufügt - die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion verschwimmen. Zugleich ist der Roman eine Spurensuche in der Erinnerung der Autorin, denn er handelt vor allem auch von Monika Helfers Kindheit und Jugend.
Dazu versetzt sie sich schreibend in einen Zustand kreativer Müdigkeit und tagträumt sich zurück, ins Jahr 1955: Zum Kriegsopfer-Erholungsheim in den österreichischen Bergen, wo sie ihre ersten Kindheitsjahre verbrachte. Ein abgelegener Ort, den sie als "das Paradies" bezeichnet: "Das Glück war für mich die Freiheit, dass man uns in Ruhe gelassen hat. Wir konnten machen, was wir wollten. Also, wenn wir geblutet haben, hat man uns einen Verband gegeben. Es war alles ziemlich locker."
In der Erinnerung umherstreifend und wie aus einer Kinderperspektive beschreibt Monika Helfer dieses Idyll so lebendig, dass man beim Lesen mitunter meint, etwa die Wärme des frischen Schlamms zwischen den nackten Zehen spüren zu können. Das Wort, das die Atmosphäre dieser Zeit wohl am besten beschreibt, ist "Gemütlichkeit" - inkarniert in den "berühmten Vorlesestunden" des Vaters.
Er war keiner, der mit seinen Kindern spielte - doch er zeigte ihnen die Schönheit der Welt, im Kleinen, wie im Großen. Seine Bibliothek - ein mystischer Ort:
"Wenn ich mich daran erinnere, meine ich, es hat immer geregnet, wenn ich mit ihm in der Bibliothek war, drinnen waren wir nicht mehr in der Welt, er knipste das Licht an, ein zauberhafter Schimmer lag auf den Buchrücken. 'Komm mit, Bücherschauen!', sagte er."
Bücher waren zeitlebens das Bindeglied zwischen Vater und Tochter, nur durch Bücher konnte er kommunizieren. "Die Bücher waren so die Handreichung zwischen uns: Wenn ich mit ihm reden wollte, habe ich gewusst, am besten geht es, wenn ich mit ihm über Bücher rede, und ich muss aufpassen, dass ich ein Buch richtig halte. Ich muss es richtig umblättern. Ich muss vorsichtig sein, wie ich mit ihm umgehe, weil da ist er völlig ausgezuckt, wenn man ein Buch grob behandelt hat - als ob es ein Lebewesen wäre!" In der Annahme, man werde ihm seine Bücher im Zuge einer Inventur wegnehmen, beginnt der Vater, sie im Wald zu vergraben - und bittet seine Tochter um Hilfe.
Was für sie ein Abenteuer ist, ist für den Bibliomanen eine Verzweiflungstat, die in einem Suizidversuch mündet. Dieser misslingt, der Vater bleibt aber monatelang im Krankenhaus. Den Kindern erzählt man etwas von einem Unfall - ein liebevolles Anlügen, schreibt die Autorin heute. Doch es war der Beginn einer zerbröckelnden Idylle. Die ist endgültig zerstört, als die Mutter an Krebs erkrankt und die Kinder bei der Familie der Tante unterkommen - in einer viel zu engen Wohnung, für viel zu viele Menschen. Nach dem Tod der Mutter verschwindet auch der Vater wieder für einige Zeit; seine Kinder wissen lange nicht, wo er ist. "Das war halt ein riesiges Loch. Dann ist man plötzlich so auf sich gestellt und es ist alles so feindlich, die Umgebung und es ist so... Man kommt sich so übrig vor - ja, ich habe mir gedacht, wenn ich aus dem Haus gegangen bin, dann hat sich die Tante Kathe, obwohl sie lieb war, hat sie gedacht, eine weniger - endlich kann ich mal tief durchatmen, wo alles immer so eng ist!"
Die Tanten und Onkel kümmern sich um die Halbwaisen - denn "die Bagage lässt die Ihren nicht im Stich". Doch über all das Schreckliche, das Sterben der Mutter, die Absenz des Vaters, wird geschwiegen. Eine Sprachlosigkeit, symptomatisch für die Nachkriegsgeneration.
Mit der für sie typischen reduzierten Sprache erzählt Monika Helfer auch über diese Zeit nach dem Paradies: von bedrückender Enge, Armut und Scham, von Schmerz und von Verlust: der Mutter und auch des Vaters, der Würde und letztlich, Jahrzehnte später, der eigenen Tochter Paula. Ihren tragischen Unfalltod flicht die Autorin wieder mit ein, wie im Vorgängerroman "Die Bagage" erzählt sie nicht chronologisch, sondern feinsinnig komponiert, mit vielen Zeitsprüngen bis in die Gegenwart und stellt so Bezüge zwischen vier Generationen her. So erzählt sie etwa auch von einer Berlin-Reise mit dem Vater in den Neunzigerjahren - in dieser Stadt erlebte sie ihn richtig glücklich.
Die Authentizität ihrer Darstellung erkennt man auch darin, dass Monika Helfer ihrer Erinnerung offen misstraut (kannte sie als Kind das im Text verwendete Wort "Schleuse" schon?) - und diesmal auch besonders die Gegenwart des Schreibens mit einbezieht: Hier googelt sie etwas, da überschreibt sie versehentlich, wie symbolhaft!, das Textdokument über ihre Mutter, die aufgrund ihres frühen Todes in Monika Helfers Erinnerung nur schwer greifbar ist.
Der Roman handelt von Verlust, Familienzusammenhalt und der Kraft der Erinnerung. Von einem Vater, der sie prägte - und doch bis zum Schluss ein völlig Fremder blieb.
Angesichts der vielen Schicksalsschläge sei sie mit dem Hoffen vorsichtig geworden, sagt Monika Helfer - und dennoch, so heißt es am Schluss von "Vati", ist doch noch alles gut geworden: "Irgendwann muss man sich etwas Schönes abgewöhnen. Das ist dann halt vorbei. Aber immerhin hat man es gehabt, das darf man nicht vergessen und man darf die Erinnerungen nicht unterschätzen. Weil sich zu erinnern ist einfach wunderbar. Und die werde ich haben, bis ich sterbe. Das passt gut."
Monika Helfers Roman "Vati" ist bei Hanser erschienen. Das Buch gibt es auch als Hörbuch, von der Autorin selbst gelesen - erschienen im Hörverlag.