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Wohnungsnot: Was, wenn ich Nein sage?

Vor einem Jahr klopften sie das erste Mal an seine Tür: zwei Männer, einer gut angezogen. Er sah aus wie ein Millionär. Kurşat Bılgıc ahnte, das ist der Boss. Der Boss sagte: Du musst hier weg. Wir wollen hier ein schönes Haus bauen. Weil Bılgıc nicht ganz verstand, erklärte der Mitarbeiter der Covivio Immobilien GmbH es noch einmal auf Türkisch. Hör auf damit, fuhr der Boss dazwischen, hier wird Deutsch gesprochen. So erinnert sich Bılgıc an die Szene.


Sie boten ihm eine vierstellige Summe, Bılgıc lehnte sofort ab: "Ich kann hier nicht weg." Er versuchte es ihnen zu erklären: dass er sonst wieder alleine ist. Nur hier kennt er alle Leute. Die Leute, das sind seine Nachbarn in einem Hinterhof im Berliner Stadtteil Wedding. Eine der letzten Häuserschluchten in einem Viertel, "das kommt", in dem die Cafés seit Jahren sprießen wie Pilze nach Regen. Bılgıc lebt seit acht Jahren hier. Sein Schnauzbart ist nikotinmeliert, er trägt Karohemd und Sneakers.


Bis vor Kurzem hätten die Leute um Bılgıcs Häuserblock nicht Englisch gesprochen, sondern Serbisch, Russisch, Türkisch, so erzählte er es 2016, beim ersten Treffen von vielen, die folgten. Es gab zu dem Zeitpunkt noch eine Autowerkstatt, Garagen, zweistöckige Häuser auf wertvollem Bauland. Ältere Frauen schauten in die Hofeinfahrt, wenn ein tiefergelegter Audi hereinbretterte. Im Sommer wurde gegrillt. Auf Türkisch bedeutet Bılgıcs Name "der Wissende". "Meister" nannten ihn die Nachbarn. Die Kinder "Opa". Manche sagten "der Alkoholiker" oder einfach "der Türke".


Jetzt aber, im Frühling 2019, sind die Nachbarn weg. Sie hätten ein Papier unterschrieben, sagt Bılgıc. Im Hintergrund rollt ein verdunkelter BMW über den gepflasterten Hof. Junge Männer räumen letzte Kisten aus einem Haus. Sie haben wohl neue Wohnungen in den Randbezirken. So genau weiß Bılgıc es nicht. Er ist der Letzte, der noch hier wohnt, in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung einer Gentrifizierungsruine, die einem Neubau weichen soll. Neben seiner Tür hängt ein Schild: Vorsicht vor dem bissigen ... "Hund" wurde mit "Bılgıc" überklebt. Eigentlich ein Scherz.


Der Mitarbeiter des neuen Hauseigentümers kommt einige Monate nach seinem ersten Besuch wieder. Er droht: Du gehst, sonst machen wir hier alles platt. Wir kommen mit Baumaschinen, da schaust du nur. Deine Möbel schmeißen wir in den Schrott. So erzählt es Bılgıc.


Dass Bılgıc gedroht wurde, wird die Covivio Immobilien GmbH später zurückweisen. Vielleicht habe es menschlich zwischen dem Mitarbeiter und Kurşat Bılgıc nicht gepasst, heißt es in einer Stellungnahme vom 15. April. Das Unternehmen besteht auf seinem Recht zu einer Kündigung, auch in diesem Fall.


Seitdem der Boss der Covivio und sein Mitarbeiter kamen, liegt Bılgıc nachts wach. Er wartet auf die Baumaschinen und denkt wieder ans Trinken. Fragt man ihn, ob er Angst habe, sagt er Nein. Angst hat man vor Dingen, die gar nicht wirklich passieren. Bılgıc sagt, er könne schon wieder alles verlieren. Früher hatte er immer denselben Traum: dass er wieder abrutscht.


Mit 15 Jahren kommt Bılgıc nach Deutschland. Als die Mauer fällt, meißelt er Stücke der Berliner Mauer ab und verkauft sie an Touristen. Eine der Kundinnen wird seine Frau. Sie bekommen zwei Kinder. Das Leben ist gut, zumindest für einige Jahre.

Bılgıc wird Dachdecker, schon sein Opa war Dachdecker. Dann passiert der Unfall. Es regnet ohne Ende. Fünfter Stock. Er rutscht ab, fängt sich aber an einem Leiterhaken. Er überlebt, dafür zerstört er seinen Arm. Arbeitsunfähig, heißt es auf dem Attest. Auf dem Schwerbehindertenausweis wird später stehen: Alkoholkrankheit in Heilungsbewährung und Depression.


Sehr geehrte Patientin, sehr geehrter Patient, Sie sind zu uns gekommen, da Sie selbst oder andere Personen denken, dass Sie ein Problem mit Alkohol/Drogen/ Medikamenten haben. Vielleicht hat das Trinken oder Konsumieren von Drogen/Medikamenten auch schon zu gesundheitlichen Problemen, zu Konflikten im Privatleben oder bei der Arbeit geführt.


Bılgıc säuft, manchmal eine Flasche Wodka, manchmal acht Flaschen Bier. Aber besoffen sei er nie nach Hause gekommen, sagt er, wenn er heute davon spricht. Er schämt sich. Chronischer Kater. Seine Frau muss ihn nicht rausschmeißen, er geht freiwillig. Zwei Jahre lang lebt er obdachlos. Zu dieser Zeit hat er nur einen Wunsch: in Ruhe gelassen zu werden.

Der Wunsch geht in Erfüllung an einem Sommerabend 2011. Ein aserbaidschanischer Freund sagt, er habe da eine Werkstatt. Vorerst könne Bılgıc darin wohnen. Das ersehnte Dach über dem Kopf, das ist eine Remise, zwei Zimmer, in denen sich Keksdosen mit Ventilen und Werkzeuge türmen. In einem Wohn- und Schlafzimmer stehen zwei durchgesessene Sofas. Es gibt eine Kochnische voll Tassen mit Schwarzteerändern. Vor dem schmierölverzierten Bad steht ein Schild: "Privat". Die Miete kostet keine 300 Euro.

Das erste Mal in seinem Leben hat Bılgıc eine Wohnung für sich allein. Er schreibt seinen Namen an die Tür, besorgt sich eine Kletterpflanze, die sich im Zimmer ausbreitet. Einen Fernseher stellt er auf den Tisch, der früher eine Werkbank war. Türkische Freunde kommen vorbei, um mit ihm Columbo zu sehen und filterlose Kippen zu rauchen. Die Tür ist meist nur angelehnt.


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