Gewünscht hat sich das alles niemand. Azab Zwareey, die syrische junge Mutter, wollte nicht mit ihren fünf Kindern und dem halbwüchsigen Neffen in einem ehemaligen Schulgebäude am Rand der bulgarischen Hauptstadt Sofia stranden. Ganz sicher wollte sie nicht von sieben Euro am Tag die ganze Sippschaft ernähren müssen und sich die Etagentoilette mit 140 anderen Flüchtlingen teilen. Sie hat nicht gewollt, dass ihre Kinder gelangweilt herumsitzen, anstatt zur Schule und zur Universität zu gehen.
Die bulgarischen Behörden haben nicht gewollt, dass Tausende Syrer aus dem türkischen Wald in ihr Land strömen. Sie wollten keine Notunterkünfte aus dem Boden stampfen und den eigenen armen Leuten erklären müssen, warum sie Geld für Fremde ausgeben. Die meisten Bulgaren möchten ohnehin keine Ausländer aufnehmen. Das steht in Umfragen. Azab Zwareey hat es zu spüren bekommen, als vor ein paar Wochen nachts ein Stein durch das Fenster flog, vor dem die Betten ihrer Familie stehen. Der Brocken verfehlte den Kopf ihrer ältesten Tochter nur knapp. Doch Zwareey hatte keine Wahl.
Als im Juni dieses Jahres Truppen des syrischen Präsidenten Assad und Rebellen begannen, sich um ihre Heimatstadt Homs eine Schlacht zu liefern, wog die Angst vor dem Bleiben plötzlich schwerer als die Angst vor der Flucht. „Ich wollte meine Kinder in Sicherheit bringen", sagt die lebhafte, kleine Frau mit dem grauen Kopftuch. Zwareey ist 32 Jahre alt, spricht genug Englisch, um sich verständlich machen zu können, und gestikuliert dazu wild. Sie brachen auf, der Mann nach Libyen, die anderen in Richtung Europa. Drei Monate dauerte die Reise. Im September, sagt Zwareey, habe sie mit den weinenden Kindern im Wald an der bulgarischen Grenze gesessen. Wie viel sie Schleppern bezahlen musste, verrät sie nicht. Irgendwann fassten sie Mut und liefen los.
Familie Zwareey ist Teil jener Welle von Flüchtlingen, die Bulgarien in diesem Spätsommer und Herbst überrollt hat. In den vergangenen Jahren kamen im Schnitt tausend Personen über die kaum gesicherte Landesgrenze. Doch in diesem Jahr waren die 1200 Aufnahmeplätze in den drei Asylbewerberzentren des Landes schon nach wenigen Monaten voll. Bis zum Sommer kamen monatlich Hunderte, im August plötzlich mehr als 1000, im September 2300 und im Oktober allein gar 3600 Flüchtlinge, drei Viertel davon aus Syrien. Dann brach endgültig Chaos aus.
Die Staatliche Agentur für Flüchtlinge wusste sich nicht mehr zu helfen. Man steckte Hunderte Familien in Busse und fuhr sie zu leerstehenden Militärgebäuden und Schulen in Grenznähe und in der Hauptstadt. Binnen Wochen entstanden vier neue Zentren. Das zugige Schulhaus an der autobahnartigen Ausfallstraße in Sofias Stadtteil Wraschdebna, zu dem die Zwareeys gebracht wurden und in dem sie bis heute leben, war sechs Jahre lang nicht mehr genutzt worden. Es gab keinen Strom, keine Heizung, kein fließendes Wasser, keine Türen vor den Toiletten, keinen Ansprechpartner - und vor allem kein Essen. Nach einigen Tagen ließen die Behörden zumindest Helfer des Roten Kreuzes hinein, die Notrationen und Kleider verteilten.
Das EU-Mitglied Bulgarien ist verpflichtet, Flüchtlinge zu versorgen. Aber Essen gibt die Regierung nicht aus. Stattdessen zahlt sie jedem, sobald er registriert ist, 65 Lewa (umgerechnet 33 Euro) im Monat. Weil es aber zu wenige Beamte und noch weniger Dolmetscher gibt, zieht sich die Registrierung der Flüchtlinge tage- und wochenlang hin. Noch immer warten Hunderte der insgesamt 8800 Flüchtlinge, die sich zurzeit in Bulgarien aufhalten, auf ihre Registrierung - und damit auf ihr Essensgeld und Zugang zu medizinischer Behandlung. Gut 4000 Asylbewerber leben in den Aufnahmezentren, 4600 haben sich unter privaten Adressen angemeldet, die ihnen teilweise von windigen Geschäftemachern verkauft werden...
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