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Dranbleiben

© Amnesty/ Gustav Pursche

Rund um die Uhr können in Seenot geratene Flüchtlinge das "Alarmtelefon" der Initiative "Watch the Med" anrufen. Die Aktivistinnen und Aktivisten versuchen sicherzustellen, dass wirklich Hilfe kommt - wenn nicht, machen sie öffentlich Druck.

Von Andreas Koob

Lisa hat das Telefon am Ohr. Es ist nur ein kurzes Telefonat, dann legt sie auf und fasst zusammen: "Die 40 Flüchtlinge sind jetzt wieder sicher auf türkischem Boden". Ihre Stimme klingt ruhig und nüchtern. Telefonate wie diese sind für sie inzwischen zur Routine geworden. Drei Mal im Monat übernimmt die Studentin eine Schicht beim Alarmtelefon der Initiative "Watch the Med". Dann nimmt sie Anrufe entgegen von Flüchtlingen, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten sind, so wie jene 40 Menschen, die eben noch in einem manövrierunfähigen Boot in der Ägäis umhertrieben.

Seit April 2015 klingelt das Telefon mindestens einmal täglich, meist sind es aber mehr Anrufe. Lisa und ihre Kollegin wirken sehr entspannt. In ihrer heutigen achtstündigen Schicht, die für die beiden gerade zu Ende ging, waren es vier Notfälle. Alle Anrufe kamen aus der Ägäis.

Ein Versuch der Intervention

Klingelt das Alarmtelefon, haben die Menschen auf den Booten zusätzlich zum eigentlichen Notruf die Nummer der Initiative gewählt. Daraufhin versuchen die Aktivistinnen und Aktivisten die Menschen zunächst zu orten und melden sich dann bei den zuständigen Küstenwachen. Damit versuchen sie, sicherzustellen, dass der Notruf ernst genommen wird und die Behörden die notwendige Hilfe veranlassen. "Es ist nach wie vor eine verrückte Situation, wenn du morgens um 7 Uhr im eigenen Zimmer sitzt und bei der griechischen Küstenwache anrufst", sagt Lisa. Die Behörden wüssten inzwischen schon, wer am anderen Ende der Leitung ist.

Lisa macht mit, weil sie nicht apathisch dasitzen will, nicht weiter tatenlos die Zahl ertrunkener Flüchtlinge rezipieren will. "Es ist ein Versuch, gegen die fatalen Folgen des europäischen Grenzregimes zu intervenieren", sagt sie. "Und zwar ganz aktiv".

Eingriff in Echtzeit

Die Initiative entstand als eine Antwort auf das Schiffsunglück am 11. Oktober 2013: 400 Menschen waren zwischen Lampedusa und Malta in Seenot geraten. Frühzeitig setzten sie ein SOS-Signal ab, ein Schiff der italienischen Marine war sogar in der Nähe, und dennoch ertranken mehr als 200 Menschen, als sich italienische und maltesische Behörden gegenseitig die Zuständigkeit zuschoben. Amnesty spricht in einem Bericht von "einem schockierenden Beispiel für die Gefahren, die mangelnde Kooperation mit sich bringt".

Damals blieb der abgesetzte Notruf zunächst folgenlos. Genau in solchen Fällen will "Watch the Med" nun "Alarm schlagen". Am 11. Oktober 2014, zum ersten Jahrestag jenes Unglücks, startete die Initiative ihre Arbeit mit dem Anspruch "in der tödlichsten Grenzzone der Welt in Echtzeit einzugreifen". Den Telefondienst übernehmen die Aktivistinnen und Aktivisten abwechselnd. Immer ist eine Person über die Hotline erreichbar - täglich und zu jeder Uhrzeit. Zuletzt gab es innerhalb von nur ­einer Woche 100 Anrufe.

Transnationale Vernetzung

Aktivistinnen und Aktivisten auf beiden Seiten des Mittelmeers haben das Projekt möglich und vor allem auch bekannt gemacht. Die Nummer der Hotline kursiert auf Flyern und in sozialen Netzwerken, Initiativen verbreiten sie und nicht zuletzt wird sie von Mund zu Mund weitergegeben: Jeder Anruf beim Alarmtelefon ist das Ergebnis dieser transnationalen Vernetzung. Lisas Kollege Tresor ist einer derjenigen, der die Fäden zusammenhält. Er steht im engen Austausch mit marokkanischen Initiativen. Das Team des Alarmtelefons besteht inzwischen aus 100 Aktiven. Sie trafen sich in Berlin, Tunis und Amsterdam, um sich besser aufzustellen und ihre Arbeit weiterzuentwickeln.

Tresor ist vor zwei Jahren selbst über Marokko nach Europa gekommen und lebt nun in Berlin. Er will die nächsten Flüchtlinge informieren, die die Passage über das Mittelmeer vor sich haben - so gut es eben geht. Er selbst sah viele Menschen ertrinken. Mehr will er von seiner Überfahrt nicht berichten. Im Gegensatz dazu erzählt Tresor geradeheraus von jenen Brutalitäten auf vorherigen Fluchtabschnitten, darüber was sich zutrug, während jener Jahre, die er zwischen Kamerun und Marokko verbrachte.

Vom letzten Abschnitt auf dem Wasser blieben Bilder, die er nicht mehr los wird: "Sie kommen, kommen, kommen, vor allem dann, wenn ich allein bin." Gerade deshalb habe er das Projekt mitinitiiert, und er will all seine Energie rein­stecken, bis sich die Politik grundlegend ändert: "Die Grenzen sind offen für Kaffee und Kakao, Uran, Öl, Coltan - eigentlich für jede Form von Handel und Lobbyismus - aber nicht für die Menschen." Fast wütend greift er nach seinem ­Mobiltelefon, als ob er das verarbeitete Edelmetall am liebsten rausreißen würde.

"Krieg gegen Flüchtlinge"

Für Tresor gleicht die Situation auf dem Mittelmeer einem "Krieg gegen die Flüchtlinge". Was Lisa und ihre Kollegin in ihrer heutigen Schicht erlebten, scheint nicht weit davon entfernt. Eine Gruppe von Flüchtlingen berichtet, wie vermutlich Be­diens­tete der griechischen Küstenwache ihr Schlauchboot in ­türkische Gewässer zurückschleppten, Luftkammern zerstachen und den Motor wegnahmen. Dort blieben die 40 Menschen zunächst sich selbst überlassen, bevor die türkische Marine sie auf Initiative des Alarmtelefons rettete.

Solche "push-backs" sind keine Einzelfälle. Die Initiative dokumentierte allein zwischen dem 5. und 18. Oktober 2015 sechs solcher Fälle. Auch Medien berichten von den Vorfällen und sprechen die Verantwortung wechselweise der griechischen Küstenwache oder Rechtsextremen auf Schnellbooten zu.

Das Team des Alarmtelefons dokumentiert solche Vorfälle ebenso wie die Rettung der in Seenot Geratenen durch Küstenwache, Fischerinnen und Fischer oder beherzte Einzelpersonen. Jedes Boot, das ankommt, ist aus Sicht des Teams ein Erfolg. "Eine Lösung ist das Alarmtelefon nicht", sagt Tresor. Das sieht auch Lisa so: "Unser eigentliches Ziel ist erreicht, wenn die Alarmtelefon-Hotline überflüssig wird", sagt Lisa. Einen Slogan dafür gibt es schon: "Fähren statt Frontex". Der Spruch klebt auch als Sticker auf Lisas Laptop. Die Idee der Fähren griff zuletzt auch der Bürgermeister der griechischen Insel Lesbos auf und forderte auch für Flüchtlinge eine reguläre Beförderung auf Personenschiffen zwischen der Türkei und Griechenland. Bis es soweit ist, werden Tresor und Lisa weiter telefonieren.

Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals.
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