So!: Was ist Judas für Sie? Ein Verräter? Ein Missverstandener? Oder ein treuer Diener Jesu?
Ben Becker: Ein Mensch mit sehr viel Liebe in seinem Herzen. Liebe auch Jesus von Nazareth und Gott gegenüber. Diese Liebe hat ihn aber in Zweifel, auch in Selbstzweifel gebracht. Aber für mich ist er in erster Linie ein liebender Mensch.
So!: Er war doch notwendig für Gottes Plan. Hätte es ohne diesen angeblichen Verrat kein Christentum gegeben?
Becker: Da bin ich mir ziemlich sicher, ja. Ohne Judas hätte es das Christentum nicht gegeben. Ohne ihn wäre Jesus Christus nicht zu dem geworden, was er heute in unserem Kulturkreis ist. Es war vonnöten, den Menschen, den er liebt, ans Kreuz zu schlagen. Das ist es, was ihn selbst zum Zweifeln bringt. Und auch in große Verzweiflung. Er hat aus Liebe einen Verrat zu begehen. Es ist sehr einfach, ihn als böse abzustempeln. Das Schöne an diesem Text von Walter Jens, diesem großen Rhetoriker, der selbst übrigens schwerstgläubiger Christ war, ist, dass er sich trotzdem mit diesem Thema und mit der Figur Judas - in für manche Menschen doch provokante Art und Weise - auseinandersetzt.
So!: Ist "Ich, Judas" ein Plädoyer für einen Geächteten?
Becker: Das kann man so sagen, ja. Wobei natürlich der Text auch die Infragestellung dessen beinhaltet, was Sie mit "Geächtetem" ansprechen. Es ist unheimlich leicht, jemanden für schuldig zu erklären oder jemanden an die Wand zu stellen. Da bin ich kein großer Freund von. Und wie ich weiß, Walter Jens auch nicht. Das ist es, was mich so tief beeindruckt hat: Dass Jens diese Sachen in seinem Text hinterfragt. Und Judas eben nicht direkt verurteilt, so wie es Judas, wie wir wissen, oft ergangen ist. Er wurde verurteilt von den Nazis, von Luther, von der Kirche, immer wieder. Weil man eben gern einen Schuldigen hat. Es ist einfacher zu verurteilen, als zu hinterfragen. Ich jedoch finde das Hinterfragen interessanter. Und uns Menschen würdiger. Man muss hinterfragen: Warum macht jemand so etwas? Warum ist jemand so, wie er ist? Warum begeht jemand eine Tat? Selbst in einem Fall, in dem ich sage, die Tat ist absolut nicht gerechtfertigt.
So!: Ist das Thema Verrat auch in der heutigen Zeit aktuell?
Becker: Ich würde sagen, dass das Thema sehr aktuell ist. Es geht um Schuld. Wer trägt wie viel Schuld in sich? Wieviel Schuld trägt ein jeder von uns in sich? Ob das nun im rein privaten Bereich ist, etwa in der eigenen Ehe, ob sich das von Haustür zu Haustür abspielt. Ich habe kürzlich in den Nachrichten eine Frau gesehen, die bei sieben Grad Minus, ihr Kind an der Brust, durch den Balkan wandert, weil sie glaubt, in Deutschland hätte sie ein besseres Leben. Als sie dann in Rostock ankommt in einem Aufnahmeheim, wirft irgend so ein Typ eine brennende Flasche als Gute-Nacht-Kuss für sie und ihr Kind durchs Fenster. Hat diese Frau Schuld? Die kommt doch nicht aus Spaß zu uns. Aber: Wer hat Schuld? Und: Wieviel Schuld trägt dieser Mann, der ihr das Fläschchen, das brennende, als Gute-Nacht-Kuss hochschickt? Gehört der an die Wand gestellt oder gehört der hinterfragt? Mit der Schuld, die er in sich trägt. Insofern ist das Thema, finde ich, heutzutage sehr aktuell. Was ist ein Herr Snowden? Inwieweit hat er aufgedeckt? Inwieweit hat er die Wahrheit erzählt? Wo hat er sich schuldig gemacht? Hat er sich überhaupt schuldig gemacht? Ist ein Donald Trump schuldig? Und: Inwieweit? Wie weit lassen wir Schuld zu? Diese ganze Infragestellung kann ich nur in den Raum stellen. Ich habe keine Antworten. Aber ich habe das Gefühl, dass das Publikum kommt und sich bereiterklärt, sich mit diesem Text und einem Herrn Becker, der ihn vorträgt, auseinanderzusetzen. Diese Menschen teilen diese Fragestellung. Es gibt ein Leben neben RTL 2.
So!: Es ist ja bereits Ihr zweites Programm, das seinen Ursprung in der Bibel hat. Würden Sie sich als religiös bezeichnen? Oder ist die Bibel für Sie nur Literatur?
Becker: Das ist eine Frage, die ich so gar nicht beantworten möchte. Die Bibel ist nicht nur Literatur, das kann man nicht sagen. Ich bin ein durchaus gläubiger Mensch. Aber vielleicht nicht im bürgerlich-moralisch-christlichen Sinne. Ich habe mal lange, über Tage hinweg mit einem Benediktiner-Mönch diskutiert. Der hat zu mir immer gesagt. "Weißt Du, Ben, wenn man sich auf die Suche begibt danach, wer oder was Gott ist, dann ist man ihm so nah, wie man ihm nur irgendwie sein kann." Ich glaube nicht an den alten Mann mit einem weißen Bart da oben. Ich sehe Gott in allem. In dem Vogel, der da fliegt. In dem Baum, der da wächst. Dafür habe ich eine große Anerkennung und einen großen Respekt. Dafür muss ich aber nicht eine Figur erfinden. Ich weiß nicht, ob das alles wirklich so war, wie es in der Bibel steht. Ich glaube, dass man auch das hinterfragen muss. Und versuchen muss, zu verstehen, was uns dieses Buch mitteilen will. Wenn Sie mich also so fragen, muss ich sagen: Ich glaube nicht, dass Jesus Christus übers Wasser gelaufen ist. Das ist meiner Meinung nach eine Metapher für jemanden, der übers Drahtseil läuft. Deswegen liebe ich diesen Menschen Jesus Christus aus tiefstem Herzen. Ich glaube aber nicht, dass er übers Wasser gegangen ist.
So!: Sie sind beim Vortrag des Judas-Textes sehr emotional, weinen sogar manchmal. Nimmt Sie der Text so mit?
Becker: Ja. Und da bin ich nicht der Einzige. Wenn man eine so existenzielle Auseinandersetzung auf der Bühne vorführt und dem nachfolgt, sich da reinversetzt, dann ist das nicht unbedingt komisch. Da muss man dann auch mal weinen. Aber das geht mir auch bei anderen Figuren so.
So!: Wie bereiten Sie sich auf diese Show vor?
Becker: Show ist ein ganz falscher Begriff, was diese Veranstaltung angeht.
So!: Wäre Theater besser?
Becker: Theater, Vorstellung. Eine Show ist etwas anderes. Eine Show macht Günther Jauch.
So!: Also: Theater.
Becker: Genau. Wie bereite ich mich vor? Indem ich mir diesen wahnsinnig komplizierten Text immer wieder durchlese und mich mit den Leuten, die mich umgeben, die mit mir zusammen arbeiten und die mich auch von außen beobachten und korrigieren, immer wieder auseinandersetze. Ich mache immer wieder den Versuch, Leuten diesen Text verständlich zu machen, ihn ihnen vorzuführen, ihn ihnen zu erzählen. Auf der anderen Seite muss ich Ihnen sagen: Es ist auch einfach Arbeit. Ich bete nicht eine halbe Stunde vorher, um mich vorzubereiten. Ich gucke mir meinen Text an und überlege, wo möchte ich was wie sagen. Da sucht man immer wieder. Man hat ständig was zu feilen. Und man muss neugierig bleiben. Das ist Arbeit. Und Vorbereitung.
So!: Was ist das für ein Gefühl, wenn man in einer Kirche steht und zum Publikum spricht?
Becker: Nun, ich bin ja kein Priester. Ich bringe das Theater in die Kirche. Für mich, Ben Becker, sind das beides heilige Orte, das Theater und die Kirche. Für viele Leute ist die Kirche heiliger als das Theater. Das muss man respektieren. Man muss mit einem offenen, ehrlichen, großen, liebenden Herz ein solches Haus betreten. Aufgenommen werden in der Kirche ja alle. Das macht solche Häuser so außergewöhnlich. Dort sprechen zu dürfen, finde ich ganz toll. Aber ich fühle mich dort nicht als Priester, ich komme auch nicht, um zu missionieren. Sondern ich komme, um einen Text in einem Gotteshaus hinzustellen, der meiner Meinung nach dort vorkommen muss.
So!: Was sollen die Besucher für sich mitnehmen?
Becker: Sie sollen sich selbst Fragen stellen. Ich sage ja: Ich bin nicht dazu da, um zu missionieren. Ich sage nicht: Nehmen Sie das mit! Oder: Interessieren Sie sich für das! Ich stelle einen Text von einem großen Rhetoriker namens Walter Jens in den Raum. Mich freut, wenn sich das Publikum damit auseinandersetzt. Und: Wenn davon ein bisschen was hängenbleibt.
So!: Werden Sie sich weiter mit der Bibel auseinandersetzen?
Becker: Ja, das wird mich nie wieder loslassen. Warum auch? Die Bibel liegt bei mir auf dem Nachttisch, aber ich lese da nicht jeden Tag drin. Dennoch: Ihre großen Themen sind existenzielle Themen. Bei meinem Versuch, ernstzunehmender Künstler zu sein (auch wenn ich manchmal Dinge mache, die vielleicht für den einen oder anderen nicht unbedingt nachvollziehbar sind), nehme ich diese Themen künstlerisch ernst. Ich bin ein Künstler, der sehr existenziell arbeitet. Deswegen werde ich von diesem sehr existenziellen und alle in unserem Kulturkreis betreffenden Buch nicht mehr wegkommen.
So!: Gehen Sie privat manchmal in eine Kirche?
Becker: Ich gehe auch privat in Kirchen, ja.
So!: Zum Gottesdienst? Oder einfach mal so?
Becker: Wie ich Lust habe.
So!: Sie waren auch schon in einem Kloster.
Becker: Mehrmals, ja.
So!: Ist das für Sie dann eine Auszeit?
Becker: Ja. Ein Zur-Besinnung-Kommen. Ein Moment der Ruhe. Aber letztlich haben Sie recht: Es ist eine Auszeit. Trotzdem findet eine Auseinandersetzung statt. Es ist kein Abschalten, wie wenn man mal ins Kino geht. Da finden Gespräche statt, da geht man einer anderen Arbeit nach - und sei es, den Schweinestall auszumisten. Das ist irgendwie ganz schön. Ich finde dort auch einen Ort von Anonymität und - im besten Falle - auch ein ganz klein bisschen was von mir.
So!: Wir haben vorhin schon darüber gesprochen, dass das Thema auch in der heutigen Zeit aktuell ist. Wie empfinden Sie eigentlich die Zeit, in der wir leben?
Becker: Mein Gott, was soll ich dazu sagen? Wenn ich sehe, was der Putin so macht, dann kriege ich schon ein bisschen Angst. Die Globalisierung macht mir auch Angst. Ich bin, wie man weiß, kein Freund dieses global herrschenden Kapitalismus'. Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Und das macht mir Angst, auch, weil ich ein Kind zu Hause habe. Ich möchte nicht, dass dieses Mädchen so etwas wie einen Krieg erlebt. Die Zeit macht mir schon Angst. Aber trotzdem: Weiter geht's.
So!: Meine letzte Frage: Was sagen Sie zum neuen Literatur-Nobelpreisträger? Können Sie mit den Texten von Bob Dylan etwas anfangen?
Becker: Er ist ein ganz großer Texter. Natürlich kann ich etwas damit anfangen. Dylan ist ein wunderbarer Texter. Aber, um provokativ auf Ihre Frage zu antworten: Das war Lemmy Kilmister von Motorhead auch. Bob Dylan hat den Literatur-Nobelpreis sicher verdient. Lemmy Kilmister posthum auch.
Interview: Andrea Herdegen1., 2., 3. März Düsseldorf
6. März Freiburg
7. März Konstanz
8. März Reutlingen
12. März Bremen
15. März Ludwigsburg
17., 18., 19. März Berlin
23., 24., 25. März Hamburg
26. März Dresden
4. April Würzburg
6. April Erfurt
7. April Leipzig
8., 9., 10. April Magdeburg
9. Juli Mainz
29. September Jena
20., 21. Oktober Hamburg
26., 27. Oktober Berlin
3. November Erfurt
4. November Bad Elster
5. November München
10. November Dresden
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