Eine provokante These, ein pastoraler Vorschlag, ja sogar ein Collar-Hemd oder eine Regenbogen-Stola reichen, und der Stempel sitzt. Sobald sich ein neuer Autor aus der Deckung wagt und einen Kommentar zu einem kirchlichen Thema veröffentlicht, beginnt das gleiche Spiel: Ist er konservativ oder liberal? Auch im Gemeindekontext passiert das - ein neuer Mitarbeiter wird vorgestellt, und sofort überlegen sich die Gläubigen, in welche Schublade sie ihn jetzt am besten stecken. Das geht ganz schnell. Auch mir ist das schon oft passiert, und ich ärgere mich jedes Mal, weil Etiketten Menschen nicht gerecht werden. Es ist die Bequemlichkeit eines Lagerdenkens, die mich provoziert, weil sie letztlich in einem Freund-Feind-Schema mündet. Das ist das Letzte, was die Kirche braucht.
Wer diese Kolumne verfolgt, hat gelesen, wie ich von meinen (positiven) Erfahrungen mit der alten Messe erzählte. Welches Brandzeichen mir das verpasst hat, ist offensichtlich - natürlich muss ich ultrakonservativ sein. Dass ich gleichzeitig vor Kurzem ein Jahreslesebuch mit Texten von Papst Franziskus herausgegeben habe, passt leider nicht in dieses Bild - sollte ich nicht eher auf der Seite derer stehen, die ihn jetzt in "brüderlicher Weise" zurechtweisen? Stattdessen wählte ich die schönsten Passagen seiner Texte und Ansprachen der letzten Jahre aus. Schwierig. Einige reagierten irritiert. Ich könnte diese Liste um weitere Beispiele ergänzen, von unzähligen Kommentaren in den sozialen Netzwerken ganz abgesehen, die der Gipfel der Vereinfachung von Komplexität und Sehnsucht nach schneller Kategorisierung sind. Worum es inhaltlich genau geht, gerät in den Hintergrund, weil ohnehin klar zu sein scheint, wer welche Position einnimmt. Ist es Faulheit, die den Diskurs verhindert? Oder die eigene Unwissenheit?
Mein säkularer Freundeskreis versteht diese Problematik überhaupt nicht. Für sie ist die Kirche ein kleiner, sterbender Haufen. Alle gleich konservativ. Vor allem die Priester und Bischöfe. Als ich einer Freundin von den Etiketten erzählte, musste sie lachen - dass sich eine Gruppe, die immer stärker an Relevanz einbüßt, lieber weiter aufspaltet als zu versuchen (trotz unterschiedlicher Ansichten), an einem Strang zu ziehen, hat sie amüsiert. Ich teile ihre Irritation. Das Lagerdenken verhärtet Fronten, obwohl doch in den wichtigsten Dingen Einigkeit besteht, die zu einem gemeinsamen Handeln motivieren könnte. Wer vorschnell urteilt, sich wegen einer Sache radikal abgrenzt, verpasst auch die Chance, sich in anderen Dingen vielleicht einig zu sein. So wird ohne Not die Spaltung der Kirche und der Gesellschaft vorangetrieben. Dagegen hilft mir persönlich, meine eigene Position immer wieder neu zu reflektieren. Nur so kann ich mich auf das zurückziehen, mir sicher sein in meiner Meinung, muss mich aber auch anderen Standpunkten nicht gänzlich verschließen. Ich kann meine Meinung unter Umständen sogar ändern. Die ständige Auseinandersetzung ist anstrengend, doch zur Bequemlichkeit sind wir nun mal nicht berufen.