1 abonnement et 3 abonnés
Article

Kommentar: Der Fetisch der gefühlten Sicherheit

Horst Seehofer am Dienstag bei Vorstellung der Kriminalstatistik 2018.© dpa

Die Zahl der gemeldeten Straftaten ist auf einem Tiefstand, aber alle sprechen über die wachsende Angst der Deutschen. Für Horst Seehofer ist das praktisch.


Als deutscher Innenminister hat man es wirklich nicht leicht. Da kämpft Horst Seehofer seit Monaten für neue Befugnisse und mehr Geld für die Sicherheitsbehörden, er warnt vor Terroranschlägen, Clankriminalität und Wohnungseinbrüchen - und dann lässt die neue Kriminalitätsstatistik diese sorgfältig aufgebaute Drohkulisse einfach in sich zusammenfallen. Die Zahl der erfassten Straftaten war 2018 so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Lediglich ein Prozent der Deutschen war demnach von schweren Straftaten betroffen. Die Zahlen von Raubüberfällen, Gewaltverbrechen, Wohnungseinbrüchen und Autodiebstählen gingen zurück. Ärgerlich.

Horst Seehofer: Verschärfte Sicherheitspolitik im sicheren Deutschland

Wie praktisch für Seehofer, dass er der Öffentlichkeit im gleichen Zug noch eine zweite Studie präsentieren konnte. Demnach haben die Deutschen immer mehr Angst davor, Opfer eines Verbrechens zu werden. Auf diese Weise kann sich der Bundesinnenminister einerseits mit dem Rückgang der registrierten Kriminalität brüsten („Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt") - und zugleich weitere Verschärfungen der Sicherheitspolitik rechtfertigen. Schließlich gilt spätestens seit 2015 die Losung: „Wir müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen". Die gefühlte Sicherheit der Bevölkerung ist in Deutschland ein Argument, das auch ohne reale Grundlage funktioniert.

Das zeigt sich auch an der Reaktion diverser Medien, die die Nachricht von der wachsenden Angst prominenter vermelden als die vom Sinken der gemeldeten Straftaten. In einem Kommentar der Stuttgarter Zeitung heißt es dazu gar: „Die Zahl der Straftaten sinkt. Doch die gefühlte Unsicherheit ist ein Problem, das die Politik zum Handeln zwingt". Nein, das ist sie nicht - zumindest nicht, wenn mit diesem „Handeln" eine Verschärfung von Gesetzen oder mehr Polizei gemeint sind. Denn beides hilft nicht gegen gefühlte Unsicherheit.

Politik und Medien müssen aufhören, Ängste zu instrumentalisieren

Wirklich helfen würde vor allem eins: Politische Parteien und viele Medien müssen ihre eigene Mitschuld erkennen und damit aufhören, die Angst der Menschen für ihre eigenen Zwecke einzusetzen. Davon, wie verlockend das ist, kann jede Journalistin, jeder Journalist ein Lied singen. Kaum etwas verkauft sich so gut wie Artikel über Verbrechen. Wenn es besonders brutal war, Flüchtlinge beteiligt waren oder Frauen vergewaltigt wurden - umso "besser". Der Mord an Susanna F., das Verschwinden von Rebecca oder eine Messerstecherei am Bahnhof bringen zuverlässig Klicks und Auflage. Jede winzige Neuigkeit, jeder Piep der Polizei, jede Wendung im Prozess spülen die immer wieder gleichen Fälle in die Schlagzeilen - und vermitteln das unheimliche Gefühl einer ständig drohenden Gefahr.

Apropos „drohende Gefahr": In Seehofers bayerischer Heimat hat dieser Begriff Eingang ins neue Polizeigesetz gefunden. Seitdem dürfen Polizisten noch früher eingreifen, Handys überwachen, Verdächtige inhaftieren. Allerdings: Wie genau der Begriff definiert ist und wann die Kriterien für eine „drohende Gefahr" erfüllt sind, weiß niemand so genau. Kein Wunder: Harte Fakten sind in der Sicherheitsdebatte nur noch Nebensache.

Rétablir l'original