Wenn Rolf Henkel spricht, verliert er oft den Faden. Henkel ist an Demenz erkrankt, sein Gedächtnis lässt ihn im Stich. Doch beim Tanzen spielt seine Krankheit keine Rolle. „Wir sind seit dem ersten Treffen dabei", sagt seine Frau. Das war im vergangenen März. Und auch heute noch gilt: Etwa zwanzig Paare sind zur Tanzstunde gekommen, gesunde und kranke. „Wir beginnen mit einem Wiener Walzer", ruft der Tanzlehrer Axel Hurow. Nach und nach betreten immer mehr Paare das Parkett, auch Henkel und seine Frau folgen.
Es geht um Freude an Bewegung und um die BegegnungJeden zweiten Dienstag im Monat treffen sich im Eschborner Tanzpunkt demenzkranke und gesunde Senioren mit Angehörigen zu einer unbeschwerten Tanzstunde. Sie sind Teil des Projekts „Wir tanzen wieder". Entstanden ist das Projekt 2007 auf Initiative von Stefan Kleinstück, Leiter des Demenz-Servicezentrums der Region Köln. Seitdem wird in Köln, Hamburg, Bonn und einigen anderen Städten regelmäßig getanzt. Auch in Eschborn und Bad Homburg.
Die Tanzschule in Eschborn hat als Erste in Hessen das Projekt aufgegriffen. Dafür hat sich Waltraud Kraft, Leiterin der Senioren- und Demenzarbeit der Andreasgemeinde in Niederhöchststadt, engagiert. Die Stadt Eschborn und die Tanzschule Axel Hurow wurden zu Kooperationspartnern. „Es geht mir nicht darum, dass die Teilnehmer jeden Schritt richtig ausführen, sondern darum, dass sie Freude an der Bewegung und der Begegnung mit Gleichgesinnten finden", erklärt Tanzlehrer Hurow.
Wenn Menschen tanzen, dann tun sie das meistens, weil sie der Takt eines Liedes dazu bringt, dass sie ihre Füße nicht mehr stillhalten können. Sie tanzen, ohne darüber nachzudenken, dass sie tanzen und ohne sich an eine bestimmte Abfolge von Schritten erinnern zu müssen. Vielleicht ist das der Grund, warum der an Demenz leidende Henkel sich so wohl dabei fühlt. „Er genießt es, auch mit anderen Frauen außer mir zu tanzen, aber er ist ja auch ein guter Tänzer", sagt seine Frau und schmunzelt.
Tanzregeln gibt es hier nichtHenkels Blick ist auf die Tanzfläche gerichtet, während er sich in einem der roten Stühle, die zu einem Halbkreis aufgebaut sind und das Parkett umranden, zurücklehnt. Er braucht jetzt eine Pause, bevor der Cha-Cha-Cha an der Reihe ist. Einen Augenblick später ertönen die kubanischen Rhythmen. Der Cha-Cha-Cha versprüht Lebensfreude und zaubert den Teilnehmern ein Lächeln ins Gesicht. Er weckt Erinnerungen an laue Sommernächte - und das, obwohl es Dezember ist.
Tanzregeln gibt es hier nicht, aber nach jedem Lied werden die Partner gewechselt. In der Mitte der Tanzfläche lassen sich Henkel und seine Frau von den lateinamerikanischen Rhythmen leiten. Henkel tanzt leidenschaftlich und schließt zwischendurch immer mal wieder für einen Moment seine Augen. Er dreht seine Frau mehrmals im Kreis, danach hält er sie oft noch einen Moment vorsichtig fest und schaut ihr tief in die Augen. Mit seiner linken Hand schwingt er im Takt mit. Auf der anderen Seite tanzen drei Frauen, die sich dabei an den Händen halten. Am Rand sitzt eine Frau im Rollstuhl. Ihren Beinen fehlt die Kraft zum Tanzen, doch ihre Füße wippen im Takt der Melodie mit. Sie lacht herzlich.
Tanzen ist wie Fahrradfahren. Einmal gelernt, wird es nicht vergessenManche Besucher haben sich schick gemacht, die meisten Frauen tragen Schuhe mit Absätzen, dazu ein Kleid oder einen langen Rock. Die Musik verstummt. „Jetzt lernen wir Samba", kündigt Tanzlehrer Axel Hurow an. Er zeigt den Teilnehmern, die zwischen 70 und 90 Jahre alt sind, noch mal ein paar Grundschritte. „Wir drehen unsere Hüfte jetzt einmal nach rechts", erklärt Hurow den Samba. „Dann knackt's" sagt eine ältere Dame, und alle Teilnehmer lachen. Irmgard
Eimecke gönnt sich eine Verschnaufpause. Sie trägt eine elegante blaue Stoffhose und eine grüne Bluse. „Ich tanze am liebsten Foxtrott", erzählt sie. Vor vielen Jahren habe sie ihn oft mit ihrem Mann getanzt. Wenn sie die Musik hört, erinnern sie die alten Lieder an frühere Zeiten, in denen ihr Mann noch gelebt hat. So wie Eimecke geht es vielen Teilnehmern von „Wir tanzen wieder". „Vertraute Lieder erinnern die Menschen hier an Erlebnisse und Erfahrungen aus ihrer Jugend, beispielsweise ihren ersten Kuss oder die erste Tanzstunde", sagt Susanne Däbritz, die für die Altenhilfekoordination der Stadt Eschborn zuständig ist. Wie passend, dass gerade Willy Schneiders Hit „Man müsste noch mal zwanzig sein und so verliebt wie damals" aus den Lautsprechern ertönt.
Zum Abschluss wird noch einmal Walzer getanzt. „Es war sehr schön", sagt Henkel hinterher, und seine Augen spiegeln Freude wider. Es gehe ihm nicht um die Musik an sich, sondern um die Bewegung. „Tanzen ist ein bisschen wie Fahrradfahren. Wenn man es gelernt hat, vergisst man es so schnell nicht mehr", fügt seine Frau hinzu. Henkel nimmt ihre Hand, und gemeinsam verlassen sie den Tanzsaal. Er schaut noch einmal über eine Schulter zurück und lächelt.