Armin Tippner ist einer von vier Millionen Selbstständigen. Er führt ein kleines Hotel am Rand von Berlin, Feierabend kennt er nicht. Dennoch will er kein anderes Leben.
Manchmal steht Armin Tippner spätabends am Wohnzimmerfenster und zählt die Lichter im Nachbarhaus. In Gedanken verpasst er jedem Leuchten ein Häkchen, okay, okay, okay, manchmal stutzt er. Dann greift er zum Telefon, tippt eine siebenstellige Nummer ein und sagt in den Hörer: Du, in Zimmer 51 brennt Licht. Es antwortet eine freundliche Frauenstimme: Müssen die Zimmermädchen angelassen haben, ich mach's schnell aus.
Armin Tippner kann berechtigtes von unberechtigtem Leuchten unterscheiden, weil es sein Hotel ist, auf das er da schaut. "Ich weiß immer, welche Nummern vermietet sind und welche nicht", sagt er. "Berufskrankheit", sagt er und meint damit nicht nur sein Dasein als Hotelier, sondern auch seine Selbstständigkeit. Das Hotel gehört ihm, und er gehört dem Hotel. Mann und Haus, das ist eins, wie bei einem chinesischen Zeichen, das man so oder so lesen kann. Wo fängt da Arbeit an, wo hört sie auf?
Wenn sich Armin Tippner in der senfgelben Hotelküche über die Käseplatte beugt, um das Frühstück für den nächsten Morgen vorzubereiten, wenn er Camembert-Ecken drapiert, Goudascheiben fächert, Petersilienblätter rieseln lässt, dann tut er das für die Gäste, aber auch für sich selbst. Tippner arbeitet auf eigene Rechnung, läuft es gut, profitiert er, läuft es schlecht, verliert er. Keine Struktur, die Höhen und Tiefen abfedert, als Selbstständiger sitzt Tippner auf dem Boden der konjunkturellen Tatsachen, spürt jede Bodenwelle, vor allem aber: die Schlaglöcher.
Armin Tippner ist 58 Jahre alt und einer von etwa 4,3 Millionen Selbstständigen in diesem Land; ein schlanker Mann mit dunklen Augenbrauen und randloser Brille, oft trägt er schwarz. Er hat zwei erwachsene Kinder und eine Frau, die sich daran gewöhnt hat, dass ihr Mann die meiste Zeit nebenan verbringt. Wenn man Armin Tippner in seinem Hotel beobachtet, spürt man eine leichte Gespanntheit, wie sie Menschen eigen ist, die Gastfreundschaft verkaufen und damit auch ein wenig sich selbst. Manchmal weiß man nicht, ob ein Satz von ihm stammt oder von dem Geschäftsmann in ihm.
Das Hotel, das Armin Tippner seit fast 20 Jahren führt, liegt im Süden Berlins an einer vierspurigen Straße, stadtauswärts linker Hand, gleich neben der Aral-Tankstelle. 29 Zimmer auf drei Etagen auf 500 Quadratmetern. Zwei angestellte Rezeptionistinnen, drei Reinigungskräfte auf 450-Euro-Basis, Jahresumsatz 240.000 Euro. Hotel Süden, so steht es über dem Eingang in serifenlosen Leuchtbuchstaben, deren Schlichtheit sich im Innern spiegelt. Alles da, was man braucht, mehr nicht. An der Rezeption hängt eine Fotografie des Reichstags, die gläserne Kuppel in sattes Abendlicht getaucht. Das hier ist Rudow, der südöstlichste Zipfel Neuköllns, der rein gar nichts zu tun hat mit dem Flat-White-im-Vollbart-Neukölln weiter oben. Seit dem Mauerfall hat sich hier kaum etwas verändert.
Sein Großvater hat das Hotel gebaut, im Jahr 1965, als er schon ein ganzes Berufsleben als Bäckermeister hinter sich hatte. Wahrscheinlich, sagt sein Enkel heute, wurde in der Bäckerei öfter gefragt, wo man in der Nähe übernachten könne. Außerdem entstand wenige Kilometer weiter gerade die Gropiusstadt, jene West-Berliner Trabantensiedlung, die sich nicht wie ursprünglich geplant in der Fläche ausbreiten konnte, weil da plötzlich eine Mauer stand, und sich nun kantig in den geteilten Himmel stellte. Hier ist etwas in Bewegung, mag der Großvater gedacht und sein kleines Hotel in Sichtweite als eine Art Teilhabe empfunden haben.
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