Reportage von News
Hotspot PratersternDrogen, Überfälle, Missbrauch - nachgefragt am Praterstern. Lesen Sie mehr dazu im News 11/18!
Es ist kaum 20 Uhr, als Familie H. ihr Lieblingsrestaurant am Nestroyplatz verlässt. Niemand ahnt, dass draußen ein Mes- serstecher auf sie wartet. Nie- mand ahnt, dass er die richtige Gelegenheit abpasst, sich an je- mandem zu rächen – für sein
Elend, für seine Unzufriedenheit, für die Gesamtsituation.
Wahllos sticht der 23-jährige Afghane
Jafar S. auf die 17-jährige Tochter, die Mut-
ter und den Vater ein. Er verletzt dabei alle
drei lebensgefährlich, bevor er Richtung
Praterstern flieht. Doch hier endet das
Blutbad nicht. Am Bahnhof geht er auf
einen Landsmann los, den er für seine
Drogensucht verantwortlich macht. Er
wusste, dass er ihn hier treffen würde.
Alltag im Chaos
„Der Praterstern schläft nie“, sagt Dennis*, während er den Inhalt des Mistkübels in den Anhänger eines Kleinlasters leert. Seit 21 Jahren ist er schon Müllmann, dreimal am Tag kommt er hierher. „Nackte und Verrückte“ treffe er zu jeder Uhrzeit, be- stehlen, beschimpfen und bespucken musste er sich schon lassen, Exkremente aller Art habe er beseitigen müssen. „Aber jemand muss es ja machen“, sagt er mit Zigarette im Mund, „sonst würde es hier noch ärger aussehen.“
Der Vorplatz des Bahnhofs, der sich mit dem Tegetthoff-Denkmal Richtung Prater- straße öffnet, ist nie leer. Zwischen der Schleife, die die Straßenbahngleise bilden, und dem Tunnel Richtung Wurstelprater durch die Bahnhofshalle, hinauf zu den Bahnsteigen der S- und hinunter zu denen der U-Bahn bewegen sich tagtäglich an die 100.000 Menschen. Die meisten von ihnen sind auf der Durchreise, steigen um oder kaufen mal eben etwas ein. Die wenigsten verweilen – es sei denn, sie müssen.
Da ist der polnische Landstreicher, der
sich im Supermarkt seine morgendliche
Bierdose kauft, bevor er taumelnd und
grunzend Zigarettenstummel vom Boden
aufhebt. Da ist die ungarische Drogen-
süchtige, die freundlich, aber befremdlich
von der Bank herüberwinkt, ihre wenigen
Zähne zur Schau stellt und sagt, sie würde
hier einfach „nur sitzen“, wenn man sie
danach fragt. Da ist der österreichische
Dealer mit John-Lennon-Sonnenbrille,
Schildmütze und Jogginghose, der erzählt,
dass er die Szene hier am Praterstern auf-
gebaut habe, aber dafür schon 13 seiner
36 Lebensjahre im Gefängnis verbracht
habe. Heute kann man trotzdem wieder
„alles bei mir kaufen“. Da ist aber auch der
Polizeibeamte – einer von mindestens
sechs, die täglich ihren Streifendienst am
Hotspot verrichten. Er beschreibt die
räumliche Verteilung der einzelnen Grup-
pen so selbstverständlich, als hätte man
ihn nach dem Weg gefragt: „Da, bei der U1,
sind die Giflter, da vorne die Alkoholiker
und beim Hinterausgang die Afghanen.“
Angst geht um
Auch Natascha Kruspel verbringt jeden Tag mehr als ein paar hektische Minuten in der Bahnhofshalle. Sie arbeitet hier als Floris- tin. Mit ihren knallroten Haaren wirkt sie taff, wie eine, mit der nicht zu scherzen ist. Wenn man sie aber fragt, ob sie Angst hat, in dieser Umgebung zu arbeiten, zögert sie und sagt „Jein“. Sie sei vom Land und lebe schon länger in Wien, aber der Praterstern sei schon eine andere Nummer. „Ich habe
einen Selbstverteidigungskurs gemacht und einen Pfefferspray griffbereit in der Lade“, sagt sie. „Das gibt mir Sicherheit.“ Verwenden habe sie ihn bisher nie müs- sen, und auch sonst sei ihr zum Glück noch nie etwas passiert, aber „man weiß ja nie“. Den Müll bringt sie abends jedenfalls nicht mehr nach draußen, da müsste sie nämlich durch die Gruppen durch, die bei den Toi- letten stehen – dort, wo im April 2016 eine Studentin von drei Asylwerbern brutal vergewaltigt wurde.
Die Pensionistin Martha Schreiber war-
tet in der Halle auf ihre Freundin Maria
Nuss, die gleich aus Floridsdorf ankommen
soll. „Alleine stehe ich hier nicht gerne“,
sagt sie. „Wir gehen immer nur mehr zu
zweit spazieren, sonst fürchten wir uns.“
Seit 1969 wohnt Martha in der Nordbahn-
straße, am Abend geht sie nicht mehr außer
Haus, und wenn, dann nimmt sie sich ein
Taxi, damit sie nicht zu Fuß gehen muss.
„Wenn mir ein Afrikaner mit Kapuze entge-
genkommt, da krieg ich einen Schreck, da
erkennt man das Gesicht ja nicht, weil der
so schwarz ist.“ Maria Nuss meint, man
müsse sich damit abfinden, in Floridsdorf
sei es schließlich auch nicht anders. „Ich
hoffe nur immer, dass einer auf eine in un-
serem Alter nicht mehr neugierig ist.“ Aber
sicher ist sie sich auch nicht. „Man hört ja in
den Medien, was hier alles passiert.“
Eine Frage der Sicherheit
Es mangelt weder an der Begründung noch an der Berechtigung, sich am Praterstern unwohl zu fühlen – doch mit harten Fak- ten lässt sich das Gefühl kaum untermau- ern. Auch deshalb nicht, weil die Polizei genaue Zahlen nicht kommuniziert und dadurch Gerüchte und Halbwahrheiten entstehen, wenn Einzelfälle nicht im Ver- hältnis betrachtet werden. Man munkelt, es gebe zehn Polizeieinsätze pro Tag, auf rund 100.000 Personen gerechnet ist das vergleichsweise wenig. „Es gibt eine inter- ne Aufzeichnung für den Praterstern“, sagt Harald Sörös, Pressesprecher der Landes- polizeidirektion Wien. „Diese Zahlen wer- den jedoch nicht an die Öffentlichkeit kommuniziert. Bei den allermeisten De- liktsgruppen konnte aber aufgrund der stark erhöhten polizeilichen Präsenz ein leichter Rückgang notiert werden.“
So ist laut Kriminalstatistik nicht nur am Praterstern, sondern in ganz Wien die Zahl der Gewaltverbrechen in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen. „Jeder kriminelle Übergriff ist einer zu viel. Aber die Anzahl der Delikte im öffentli-
chen Raum ist heute niedriger als noch vor zehn Jahren, daher ist Wien in den vergan- genen Jahren sicherer geworden“, sagt Stadtplaner Udo Häberlin. „Wenn man die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Kriminali- tät zu werden, damit vergleicht, was man in den Medien liest, wird klar, dass es ob- jektiv auch am Praterstern sicher ist. Das hilft natürlich niemandem, der oder die sich dort unsicher fühlt, das ist ganz klar. Wichtig ist aber, dass keine falsche Stim- mung entsteht.“
Dafür plädiert auch der Rechtsanwalt Johann Schuster, der im zweiten Bezirk aufgewachsen ist. Von seinem Büro aus sieht er den Praterstern als Ganzes – er ist kein Mann der vorschnellen Urteile: „Frü- her war es hier sicher gefährlicher“, sagt er und erinnert sich: „Vor 40 Jahren wurde hier noch herumgeschossen.“ Auch als sei- ne Tochter hier aufwuchs, blieb der Rechts- anwalt gelassen: „Ich habe zu ihr gesagt, wenn sie verfolgt wird, soll sie sich in eines der Puffs flüchten, dort steht sicher ein muskulöser Mann, an den sie sich wenden kann.“ Heute seien die Laufhäuser alle zu Hotels umgebaut worden und der zweite Bezirk lebenswerter denn je. „Ich kenne den Herrn H. (das Opfer des Überfalls am Nestroyplatz; Anm. d. Redaktion) persön- lich, vom Sehen, das ist ein Drama, was der Familie da passiert ist, keine Frage. Aber ich halte überhaupt nichts davon, dass sich die Leute jetzt aus Furcht nicht mehr durch den zweiten Bezirk bewegen oder sich gar bewaffnen.“
Dieser Meinung ist auch der stellvertre- tende Bezirksvorsteher Adi Hasch: „Wir sind sehr dahinter, dass sich das Image ändert, wir wissen, dass der Praterstern
nicht besonders schön ist.“ Die Frage sei aber vielmehr: „Ist es den Menschen zu- mutbar, dass man Armut sieht?“ Es sei auch keine Lösung, die Menschen von hier zu vertreiben, „dann verteilt sich das Gan- ze und man hat es gar nicht mehr im Blick“. Ziel ist es laut Adi Hasch, den Praterstern kulturell zu beleben – auch in Zusammen- arbeit mit dem Nachtclub Fluc.
Dessen Betreiber, Peter Nachtnebel,
sieht am Praterstern aber auch derzeit
kein Problem: „Es gibt hier so gut wie kei-
ne Kriminalität“, sagt er, obwohl es erst
vergangenes Wochenende zu einer Mas-
senschlägerei kam, in die auch zwei seiner
Türsteher involviert waren. „Dass Bahn-
höfe Orte von Auseinandersetzungen sein
können, ist nichts Ungewöhnliches“, die
meiste Zeit gehe es friedlich zu.
Perspektivenwechsel
Sie flanieren, sie lungern, sie lauern. Erst wenn man genau hinschaut, kann man beobachten, wie kleine Drogenpäckchen die Hände der afghanischen Asylwerber wechseln. Jafar S. war einer von ihnen. Auch Farmanullah und Ali aus Afghanistan stehen hier. Ihr Deutsch ist perfekt, ihre Berufswünsche sind konkret: Krankenpfle- ger und Automechaniker. Warum sie zum Bahnhof kommen? Um Freunde zu treffen und die Zeit totzuschlagen. Vor allem aber aus mangelnder Perspektive – doch diese wird nicht am Praterstern, sondern an- derswo zu suchen sein.
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