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WELT: Braunkohle-Kraftwerke als Sicherheitsreserve nur bedingt einsatzbereit?

Wirtschaft

Braunkohle Zweifel an Verfügbarkeit der deutschen Kraftwerksreserve

Die Verbraucher finanzieren Reservekraftwerke in den Braunkohle-Revieren mit Milliarden. Linke und Grüne halten die Anlagen nur für bedingt einsatzbereit. Vernachlässigt der Bund seine Aufsichtspflicht?

Spielt das Klima verrückt, bleibt das Licht in Deutschland erst mal an. Denn selbst bei Windstille und Dunkelheit droht noch lange kein Energieblackout. So hält die Bundesregierung zum Beispiel Braunkohlekraftwerke vor, die im Bedarfsfall Strom ins Netz einspeisen können.

Fünf Meiler werden bis 2019 in die sogenannte Sicherheitsbereitschaft überführt und stehen ausschließlich für Extremsituationen zur Verfügung. Die Betreiber kassieren dafür Millionensummen aus den Netzentgelten der Verbraucher. Nur: Funktioniert diese Sicherheitsbereitschaft auch wirklich?

Zweifel gibt es durchaus: WELT liegen Dokumente vor, denen zufolge die Bundesregierung nicht nachprüft, ob die Anlagen wirklich innerhalb von zehn Tagen einsatzbereit sind, wie es der Vertrag zwischen Bund und Braunkohleindustrie vorsieht. Ob die Betreiber genügend Personal und Ressourcen bereithalten, wird von niemandem kontrolliert.

Steuerzahlerbund kritisiert blindes Vertrauen

„Bei einer Millioneninvestition belässt es die Bundesregierung bei blindem Vertrauen gegenüber den Kraftwerksbetreibern, ohne die materielle Grundlage zu untersuchen", kritisiert Reiner Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler, auf WELT-Nachfrage. Das Risiko trügen die Stromkunden.

Nachdem im September 2016 das Kraftwerk Buschhaus im Helmstedter Braunkohlerevier als erstes in die Sicherheitsbereitschaft überführt wurde, wollte es die Partei Die Linke im Bundestag genau wissen: Wie denn die Bundesregierung die Einsatzbereitschaft der Anlage überprüfe?

„Die Bundesregierung geht davon aus, dass das Kraftwerk Buschhaus in der gesetzlich geregelten Zeit betriebsbereit gemacht werden und Strom einspeisen kann", lautete die Antwort: Gegenteilige Informationen oder Erkenntnisse lägen nicht vor.

Geht der Bund zu sorglos mit den Geldern der Stromkunden um, wenn er blind auf die Zusagen der Braunkohle-Konzerne vertraut? Für die Verbraucher wäre Nachlässigkeit schmerzhaft. Schließlich geht es bei der Sicherheitsbereitschaft um eine teure Art der Sterbehilfe für einen Kraftwerkstypus, den es in absehbarer Zeit in Deutschland nicht mehr geben wird.

So kassieren die Betreiber Mibrag, RWE und Vattenfall für den Minimalbetrieb der fünf Kraftwerke, die zwar eingemottet, aber nicht stillgelegt sind, insgesamt 1,61 Milliarden Euro. Im Gegenzug, so steht es in dem 13-seitigen Vertrag, müssen sie im Bedarfsfall innerhalb von zehn Tagen betriebsbereit sein. Ob sie das wirklich sind, überprüft aber offenbar niemand.

Nicht genügend Personal vor Ort? Betreiber dementiert

Claudia Kemfert, Mitglied des Sachverständigenrats für Umweltfragen, hat ihre Zweifel. Sie argwöhnt, dass die Verständigung zwischen Kraftwerksbetreibern und Bundesregierung auf realitätsfernen Angaben beruht: „Ob genügend Personal und Ressourcen im Bedarfsfall zur Verfügung stehen, ist fraglich."

Technisch sei es zwar möglich, Braunkohlekraftwerke innerhalb von zehn Tagen aus der Reserve zu aktivieren. Es sei allerdings unklar, ob die Kraftwerksbetreiber bei einem stillgelegten Kraftwerk dauerhaft Ressourcen vorhalten, sagt Kemfert, die auch die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) leitet: „Eine Vollausstattung würde sich wirtschaftlich nicht rechnen."

Auch sei die Aktivierung eine Herausforderung für die Infrastruktur rund um das Kraftwerk: Den öffentlichen Nahverkehr für den Transport von Mitarbeitern, entsprechend ausgestattete Feuerwehren, einen Sicherheitsdienst, sagt Kemfert: „Das ist oftmals nicht im Zeitraum von zehn Tagen zu bewerkstelligen."

Der Kraftwerksbetreiber Mibrag weist den Verdacht zurück: „Alle notwendigen Maßnahmen, die zur Aufrechterhaltung der Betriebsgenehmigung erforderlich sind und den hohen technischen Standard des Kraftwerks sichern, werden auch in der Sicherheitsbereitschaft ausgeführt", erklärte das Unternehmen auf WELT-Nachfrage. Die Helmstedter Revier GmbH (HSR) - eine Tochtergesellschaft der Mibrag stelle „alle dafür notwendigen personellen, organisatorischen und prozessualen Voraussetzungen gesetzeskonform sicher". Rund 80 Mitarbeiter hielten den Stillstandsbetrieb aufrecht.

Eine Erklärung, die den Kritikern der Linken nicht ausreicht: Sie zweifeln in ihrer Kleinen Anfrage vor allem die fristgemäße Bereitstellung von Kohle an. Weil die Anlieferung aufwendig ist, musste das Kraftwerk 2016 sogar eine Woche früher als geplant abgeschaltet werden. Der angrenzende Tagebau Schöningen war früher als erwartet „ausgekohlt", Buschhaus ging deshalb nicht wie geplant am 1. Oktober sondern bereits am 24. September 2016 vom Netz.

Braunkohle muss per Bahn herbeigeschafft werden

Sollte der Meiler nun reaktiviert werden, müsste die Kohle per Schiene aus dem mitteldeutschen Bergbaugebiet, rund 200 Kilometer von Buschhaus entfernt, angeliefert werden. Die Fragesteller von der Linken haben ausgerechnet, dass für den Tagesverbrauch von 6000 Tonnen rund 240 Kohlewagen über die Schiene geschickt werden müssten - pro Tag.

Es gibt noch einen weiteren Kritikpunkt. Nämlich die Sanktionen, die drohen, wenn die Betreiber ihre Frist überziehen. Dann droht nämlich eine Kürzung der Vergütung um zehn Prozent pro Jahr. „Die Energiekonzerne können ohne Verlustrisiko auf Nichtvorhaltung der Sicherheitsreserve pokern, sie gewinnen am Ende immer", sagt Lorenz Gösta Beutin, energie- und klimapolitischer Sprecher der Linken. Schließlich gibt es nur für den Zeitraum kein Geld, in dem die Anlage ihre Voraussetzungen nicht erfüllt, auch wenn das offenbar niemand prüft.

Beutin fordert daher Kontrollen vor Ort und empfindliche Strafen bei Nichteinhaltung. „Die Stromzahler blechen für Millionengewinne eines privaten Energieversorgers, der über den Strompreis eine Leistung vergütet bekommt, die er nicht zweifelsfrei in der Lage ist, bereitzustellen", sagte Beutin WELT. Das Wirtschaftsministerium werde seiner Verantwortung als Kontrollinstanz nicht gerecht und vertraue blind. Auch die Grünen kritisieren die Einseitigkeit des Deals. Ihr Fraktionsvorsitzender Anton Hofreiter sagte WELT: „Die Stromverbraucher zahlen für etwas, bei dem noch nicht einmal klar ist, ob es das gibt."

Wer die Sicherheitsbereitschaft als bezahlten Abschied auf Raten bezeichnet, liegt nicht falsch. Denn die Braunkohlemeiler der Sicherheitsbereitschaft mit einer Kapazität von insgesamt 2700 Megawatt sollen schrittweise vom Netz gehen, so sieht es das Strommarktgesetz vor, das der Bundestag im Jahr 2016 verabschiedet hat. Vier Jahre nachdem der letzte Meiler in der Bereitschaft ist, gehen an den Standorten Buschhaus, Frimmersdorf, Niederaußem, Jänschwalde und Neurath endgültig die Lichter aus.

Überflüssiger „Gürtel zum Hosenträger"?

Läuft alles nach Plan, ist im Jahr 2023 also das letzte Braunkohlekraftwerk der Sicherheitsbereitschaft vom Netz. Die Bundesregierung will schon bis zum Jahr 2020 durch die Einmottung der Anlagen 13 Prozent, also rund 12,5 Millionen Tonnen an CO 2-Emissionen einsparen.

Manche Kritiker bezeichnen die Sicherheitsbereitschaft deshalb als „Sterbeprämie", andere als „Etikettenschwindel": Sie glauben, dass die teure Sicherheitsbereitschaft wahrscheinlich ohnehin nie abgerufen werden wird, weil die Netzstabilität schon durch andere Maßnahmen genügend abgesichert ist.

Der frühere Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hatte die Funktion der zusätzlichen Braunkohlereserve mit dem Begriff „Gürtel zum Hosenträger" umschrieben. Eingerichtet wurde sie nur, um den nationalen CO 2-Einsparzielen näher zu kommen. Weil eine Enteignung der Kraftwerke nicht verfassungskonform gewesen wäre, bot die Einrichtung der Sicherheitsbereitschaft einen auch beihilferechtlich gangbaren Weg, die Kohlekonzerne für die Einmottung und den entgangenen Gewinn zu entschädigen.

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