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Das unvollendete Triptychon

Ein Buch über Konrad Wolf ist selbst für die von Hans Magnus Enzensberger gegründete, heute von Christian Döring geleitete Andere Bibliothek ungewöhnlich. Die Publikation erzählt nicht allein von Leben und Werk des bedeutenden Filmregisseurs, sondern am Beispiel der deutsch-jüdischen Familie Wolf - ihr gehören auch der Vater und Schriftsteller Friedrich und der Bruder und Geheimdienstchef Markus Wolf an - von Aufstieg und Fall der Sowjetunion und damit vom extrem blutigen Scheitern daran, eine nachkapitalistische Gesellschaft aufzubauen. Geschrieben ist das Buch von keinem Filmwissenschaftler, sondern von der Politikerin und Publizistin Antje Vollmer und dem Liedermacher und Autor Hans-Eckardt Wenzel. Beider Sichtweisen sind nicht zu einer Synthese geführt, beider Texte sind durch unterschiedliches Papier getrennt. Fragen nach dem Scheitern der Linken oder nach dem Verhältnis von Kunst und Politik bewegen das Erzählen beider. Denn: „Wenn wir das historische Denken verlernen, geben wir alle Werkzeuge aus der Hand, um uns den Unerträglichkeiten und Ungerechtigkeiten widersetzen zu können." Programmatisch steht das für das Verbindende. Dennoch gibt es Kapitel, die eigenständige Essays sind, aber die Grundform ist kein Potpourri, sondern die eines Triptychons. Ein solches Bild, ob in christlicher oder weltlicher Ausformung, ist stets universell.

Auf der ersten Tafel wird der Werdegang Friedrich Wolfs erzählt, der 1888
geboren ist, dem Jahr, in dem, wie Wenzel anmerkt, Gustav Mahler seine 2.
Symphonie beginnt, eine große Klage über eine Welt, in der nach Nietzsche
Gott tot sei und die dadurch ihre Mitte verloren hat: „An diesem Punkt beginnt
der Zerfall der mühsam zusammengehaltenen alten Welt.“ Alle Zukunftsentwürfe
der Epoche reagieren darauf. Während des Ersten Weltkriegs, in dem das
überkommene Europa unterging, radikalisierten sich viele, so auch Friedrich
Wolf, der aus der Jugendbewegung kam und in der kommunistischen Partei zur
Hochform gelangte, der seine Kunst als Waffe sah und immer auch als Funktionär,
etwa später als DDR-Botschafter in Warschau, agierte. Der Sohn Konrad,
geboren 1925 im hohenzollernschen Hechingen, verfilmte später nicht nur mit
„Professor Mamlock“ (1961) ein Schauspiel des Vaters, das die Verfolgung der
Juden thematisierte, sondern gestaltete auch mit „Sterne“ (1959) den ersten
deutschen Spielfilm, der die Shoa erhellte und den man gesehen haben sollte.
Der Übergang zum zentralen Tafelbild ist die erkämpfte Rückkehr von
Konrad Wolf in der Sowjetarmee, darüber drehte er mit „Ich war neunzehn“
einen allmählich erkannten Filmklassiker. Einige Szenen haben wie auch bei
anderen seiner besten Werke eine biblische Wucht. Gleichzeitig versuchte
er, als linientreuer Kommunist zu wirken. Hier geriet er in ein Dilemma: „Die
Tragödie eines kommunistischen Intellektuellen besteht in der Regel darin,
dass ihn sein Engagement zwangsläufig in die Nähe von Menschen bringt,
die in ihrem Machtgebrauch und Machtgehabe fatal denen ähneln, gegen
die er einmal aufbegehrte, als er ein oppositioneller Intellektueller wurde.“
Diesem Widerspruch wollte Konrad Wolf mit dem Film „Troika“ gestalten.
Nicht nur er, sondern auch seine beiden engen Kindheitsfreunde im Moskauer
Exil kämpften im Zweiten Weltkrieg: der eine, nachdem sein Vater von Stalins
Schergen ermordet wurde, wider Willen in der deutschen Wehrmacht,
der andere in der US-Armee, nachdem sein Vater nach Amerika, enttäuscht
von der sowjetischen Diktatur, zurückgekehrt war. Alle drei blieben, obwohl
getrennt im Zweiten wie im Kalten Weltkrieg, Freunde, die sich sogar unter
großen Schwierigkeiten trafen. Doch hätte ein solcher Spielfilm, basierend auf
realen Geschichten, in der DDR tatsächlich gedreht werden können? Christa
Wolf beurteilte die Lage des mit ihr befreundeten, aber nicht verwandten Konrad
Wolf, der ihren Roman „Der geteilte Himmel“ verfilmte, schonungslos. Zu
seinem allzu frühen Krebstod mit 56 Jahren am 7. März 1982 schrieb sie: „Ich
gehe sogar so weit, zu sagen, dass er nicht mehr leben konnte und dass er
in einem Moment gestorben ist, in dem er keinen Spielraum mehr hatte.“ In
der Tat ist es unwahrscheinlich, dass Konrad Wolf den Stoff hätte angemessen
gestalten können. Aus inneren Gründen, die SED-Parteilinie konnte er
nicht radikal überschreiten, wie aber auch aus äußeren, weil die Geschichte
noch nicht zu Ende war. Das dritte Bild des Triptychons bleibt denn auch
ungemalt und das Buch vom Stoff her ein notwendiges Fragment. Was allerdings
bei einem Nachdruck beseitigt werden sollte, sind etliche Flüchtigkeitsfehler;
so ist Heinrich Graf von Einsiedel einmal der Enkel von Otto von
Bismarck, und ein anderes Mal richtigerweise der Urenkel.
Das dennoch höchst lesenswerte Buch erscheint in einem bemerkenswerten
Umfeld. In Düsseldorf läuft 30 Jahre nach der Maueröffnung unter dem
Titel „Utopie und Untergang“ die erste westdeutsche Ausstellung zur Kunst
in der DDR. Thomas Heise erzählt im Film „Heimat ist ein Raum aus Zeit“
die Geschichte seiner deutsch-jüdischen Familie rund um seinen Vater Wolfgang
Heise, einen der wenigen DDR-Gesellschaftswissenschaftler, die man
kennen sollte, in gesamtdeutscher Perspektive. Der Film „Und der Zukunft
zugewandt“ gibt ein realistisches Bild vom Stalinismus der DDR. Und auch
Heiner Müller, der große Dramatiker der späten DDR, wird nun wieder häufiger
auf die große Bühne gebracht. Die Beispiele ließen sich fortsetzen und
könnten eine Basis (zurück-)erobern, die Heiner Müller schon 1992 als notwendig
erachtete: „Wenn es gelingt, die staatliche Einheit in der Kultur nachzuvollziehen,
wird es wieder ein Versuchsfeld geben, auf dem der Widerstand
gegen den Verfall der Werte und Maßstäbe geprobt werden kann.“
Oder sollten dafür die Risse in der Gesellschaft mittlerweile zu tief
geworden sein? Fest steht: Mit dem Tod von Konrad Wolf endete nicht die
Geschichte der Troika. Markus Wolf, der als Geheimdienstchef zurückgetretene
zwei Jahre ältere Bruder, schrieb auf Grundlage der Materialien des
nie gedrehten Films ein Buch, das im Frühjahr 1989 zeitgleich im Osten und
Westen erschien. Es verfolgte die politische Agenda von Gorbatschow, sprach
vieles an, aber nicht aus: Die „Ereignisse in der Tschechoslowakei“ lautet die
euphemistische Umschreibung für den Einmarsch 1968. Bei einer Lesung im
Umfeld der Demonstration am 4. November 1989, auf der Markus Wolf neben
Bürgerrechtlern und Künstlern sprach, erlebte ich, wie die Schauspielerin
Steffie Spira ihn für dieses Ungenügen angriff, das nicht nur seines war.
Wer das materialreiche Kompendium der Troika von Konrad Wolf heute
liest, sieht einen großen Stoff und kann sich der Vermutung von Vollmer
und Wenzel nur anschließen: „Einmal wird es diesen Film geben. Er wird
einen anderen Regisseur haben.“ Bis dahin bleibt der nicht gedrehte Film
eine offene Wunde. Wahrscheinlich wird diese Geschichte eines Scheiterns
erst dann erzählt werden, wenn ein zweiter Versuch, eine nachkapitalistische
Gesellschaft aufzubauen, heranreift. Der Zorn auf die jetzige Welt, die
so nicht bleibt, wenn sie sich so weiterdreht, könnte der Treibstoff sein. Das
wird deutlich, wenn man parallel zum Buch Wenzels herausragende Kamenzer
Rede vom September 2019 liest oder hört. Er befürchtet, dass der Laden
sich nicht mehr zusammenhalten lässt: „Als hätten die Teile nichts miteinander
zu tun, monologisieren Akteure und Phänomene [...] Aufgeputscht durch
die eigene Meinung im Sound der Echoräume. Unsere Hilflosigkeit gegenüber
diesem Zerfransen der Welt offenbart [...] wie sehr uns das Instrumentarium
der Vernunft abhandengekommen ist.“ Was also tun? Das letzte Wort im
Konrad-Wolf-Buch hat der mittlerweile 97jährige Freund, Drehbuchautor und
Romancier Angel Wagenstein: „Ich glaube, dass der Sozialismus ein Projekt
ist, ein menschliches Projekt, das fundamentalste Projekt der Weltzivilisation
nach dem Christentum. […] Die Inquisition war der Gulag des Christentums.
[…] Ich bin kein Prophet in Sachen Sozialismus. Ich weiß nur, dass es keinen
anderen Weg für die Menschheit gibt. Es gibt keinen anderen Ausweg.“ Da
der Untertitel des Buchs, „Chronist im Jahrhundert der Extreme“, auf Eric
Hobsbawms Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts zurückgreift, sei am Ende
auch dessen Position erwähnt. Der 2012 verstorbene Geschichtsschreiber
war überzeugt, dass der Kommunismus, an den er lange geglaubt hatte, nicht
wiederkommen wird, aber dass die heutige Welt radikal, also von der Wurzel
aus, geändert werden müsse, sonst käme, so sein Schlusswort in seinem Klassiker:
Finsternis. Bis eine dieser Alternativen eingeschlagen wird, bleibt das
vorliegende Buch eine Wegmarke, die man nicht übersehen sollte.


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