Eine Kunstaktion in Berlin provoziert mit Videos von schwerverletzten Kindern und wirbt damit um humanitäre Hilfe für Syrien. Unser Autor hat die Aktion fünf Tage lang begleitet.
Die beiden blauen Schiffscontainer, die übereinander gestapelt mitten auf dem Berliner Dorothea-Schlegel-Platz am Bahnhof Friedrichstraße stehen, erinnern schon von Weitem an Menschentransporte. Sie lassen an Menschen denken, die sich in solchen Containern oder auf schrottreifen Kähnen einpferchen lassen - in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa. Und an die Menschen, die jeder Hoffnung beraubt in Zugwagons verladen wurden, um durch Zwangsarbeit, Exekution oder in Gaskammern ermordet zu werden.
Diese Assoziation zwingt sich auch deshalb auf, weil nur wenige Meter von den Containern entfernt das berühmte Mahnmal „Züge ins Leben - Züge in den Tod: 1938-1939" von Frank Meisler steht, das an die historischen Transporte deutsch-jüdischer Kinder nach Großbritannien erinnert.
Die örtliche und symbolische Nähe der blauen Container zum Mahnmal ist kein Zufall. Sie beherbergen eine Videoinstallation und sind Teil einer Kunstaktion, die sich der Aktionskünstler Philipp Ruch ausgedacht hat. Ruch, ein hochgewachsener Mitdreißiger mit ebenso hoher Stirn und Dreitagebart, ist der Gründer des „Zentrums für politische Schönheit" (ZPS), einer Gruppe aus Kreativen und Aktivisten, die in den letzten Jahren bereits mehrfach mit medienwirksamen Kunstaktionen auf sich aufmerksam gemacht hat.
„Eine der größten humanitären Katastrophen"2012 hatte das ZPS beispielsweise mit einer groß angelegten Medienkampagne dazu aufgefordert, die Besitzer des Rüstungskonzerns Krauss-Maffei Wegmann hinter Gitter zu bringen, weil das Unternehmen Leopardpanzer an Saudi Arabien liefern wollte, wozu es letztlich aber nicht kam.
Diesmal geht es Ruch und der Gruppe um den Krieg in Syrien. Zehn Millionen Flüchtlinge, 5,5 Millionen betroffene Kinder und mehr als 150.000 Tote - so lautet die erschütternde Bilanz des seit drei Jahren andauernden Konflikts. „In Syrien geschieht gerade eine der größten humanitären Katastrophen seit dem Zweiten Weltkrieg", sagt Ruch. Dass die westliche Welt untätig zuschaue, findet er unerträglich. Gerade Europa und die Vereinigten Staaten hätten aus historischer Verantwortung heraus eine Pflicht zur militärischen Intervention.
Der Schwur „Nie wieder Ausschwitz" sei bereits in Bosnien, Ruanda, Tschetschenien, Darfur und nun in Syrien gebrochen worden, meint Ruch. Er sagt: „Es kann beim Holocaust nicht nur darum gehen, die Erinnerung daran wach zu halten, sondern es muss auch darum gehen, zukünftige Völkermorde aktiv zu verhindern."
Ein Kraftakt für Beteiligte und ZuschauerRuch steht vor den blauen Containern und kämpft mit der Technik. Bei der Generalprobe, sagt er, habe noch alles funktioniert. Jetzt streikt plötzlich der Videoprojektor. Auch der Ton macht Probleme. Die Eröffnung der Installation verzögert sich etwas. Erst am nächsten Tag klappt dann alles einwandfrei. Fünf Tage lang werden die Künstler und zahlreiche Helfer die Installation 24 Stunden täglich am Laufen halten. Es wird ein Kraftakt - für die Beteiligten genauso wie für die Zuschauer.
An den Außenwänden der Container hängen insgesamt einhundert Bilder von zum Teil schwer verletzten syrischen Kindern. Es handelt sich um Screenshots von Youtube-Videos. Die Videos werden hinter einem schwarzen Vorhang im Innern der Container, in der sogenannten „Trauerkapelle", gezeigt. Zu sehen sind Nahaufnahmen von schreienden, zutiefst traumatisierten Kinder, die aus den Trümmern zerbombter Häuser geborgen werden. Von Kindern, die blutüberströmt auf OP-Tischen liegen. Man sieht ihre klaffenden Wunden, die durch Bombensplitter oder Trümmerteile in die kleinen Körper gerissen wurden. Das Videomaterial sei authentisch, versichert Ruch. Ob diese Kinder heute noch am Leben seien, kann er nicht mit Sicherheit sagen.
Er wolle die Herzen der Deutschen mit der Brechstange öffnen, hatte Ruch im Vorfeld mehrmals verkündet. Die Installation auf dem Dorothea-Schlegel-Platz führt drastisch vor, wie er das meinte. Was man hier präsentiert bekommt, geht unter die Haut und brennt sich ins Gedächtnis ein. Die meisten Passanten, die in den folgenden Tagen die blauen Container nichtsahnend betreten, kommen meist nach wenigen Minuten mit verstörtem Gesichtsausdruck wieder heraus. Manche werden weinen oder angewidert davonstürmen. Und je länger man sich den Bildern stellt, desto größer wird das Gefühl der Ohnmacht - der Hilflosigkeit im Angesicht des Leidens dieser Kinder.
Als sei es eine Aktion des FamilienministeriumsUm die Kinder geht es den Künstlern vom ZPS zuallererst. Sie wollen die deutsche Bevölkerung und die Bundesregierung dazu bewegen, wenigstens einige von ihnen zu retten. Zu diesem Zweck inszenieren sie ihre Aktion als „hyperreales Theater". Sie tun einfach so, als sei die Aktion ein offizielles Hilfsprogramm der deutschen Bundesregierung. Die Videoinstallation ist als staatliche Informationsstelle getarnt und nennt sich „Flüchtlingszulassungstelle des Bundes". Auf den ausliegenden Flyern prangt das offizielle Logo des Bundesfamilienministeriums. Und an der Rückseite der Installation hängt ein riesiges Porträt der Familienministerin Manuela Schwesig.
Auf den einhundert Bildern der Kinder steht jeweils eine Telefonnummer mit unterschiedlicher Endziffer. Über diese Hotline soll die deutsche Bevölkerung darüber abstimmen, welches Kind von der Bundesregierung gerettet werden soll. Abends veranstalten die Künstler vor den Containern die Spielshow „1 aus 100", bei der Spiele wie „Kriegstabu" oder „Wer wird Visionär?" mit dem Publikum gespielt werden.
Ernst gemeint ist das Ganze natürlich nicht. Die vermeintlichen Expertengäste der Show sind allesamt Schauspieler, die gestellten Fragen sind reine Satire. Allerdings steckt hinter der Inszenierung auch eine bittere Wahrheit: „Menschen zu helfen, bedeutet immer auch zu selektieren, wer in Aleppo weiter stirbt und wer von uns gerettet wird", erklärt Dorothee Krüger, eine Sprecherin des ZPS.
Die Künstler wurden ins Kanzleramt geladenBereits vor zwei Wochen hatte die Gruppe eine täuschend echte Webseite ins Internet gestellt, auf der sie im Namen der Bundesfamilienministerin Schwesig eine „Kindertransporthilfe des Bundes" angekündigt hatte. Im Rahmen dieses fingierten Asylprogramms sollen 55.000 syrische Kinder vorübergehend in deutschen Pflegefamilien untergebracht werden. Die vermeintliche Rettungsaktion verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den sozialen Medien. Bundesweit wurde in der Presse darüber berichtet.
Bis Ende der vergangenen Woche hatten sich beim ZPS rund 700 pflegewillige Familien gemeldet. Hunderte Menschen schrieben Dankesbotschaften auf die Facebook-Pinwand von Schwesig und legten Blumen und Plüschtiere vor dem Familienministerium nieder. Sogar die Bundesregierung sah sich daraufhin zu einer Reaktion gezwungen. Die Künstler wurden ins Kanzleramt geladen. Sie wurden zwar nur von Fachreferenten empfangen und freundlich abgewimmelt. Ein Erfolg sei das trotzdem gewesen, sagt Ruch: „Syrien war aus den deutschen Medien und der Politik verschwunden, wir haben es zurückgeholt."
Neben den blauen Containern steht ein weißer Gartenpavillon, auf den ein rotes Kreuz gepinselt wurde. Er dient als symbolisches Erste-Hilfe-Zelt für all diejenigen, die aufgrund der Videos einen Schock erlitten haben. Im Zelt trifft man auf Menschen wie Anis, 29 Jahre alt, Theaterregisseur und Friedensaktivisten aus Homs. Anis trägt eine Augenklappe. Bei einer Demonstration vor knapp drei Jahren, kurz bevor die Revolution in Syrien in Gewalt umschlug, waren Granaten mitten in der Menschenmenge explodiert. Anis wurde von einem Granatsplitter getroffen und verlor sein linkes Auge.
Grundlos verschleppt und zu Tode gefoltert„Ich bin einer von wenigen Glücklichen, die im Rahmen des ersten deutschen Aufnahmeprogramms legal nach Deutschland einreisen durften", erzählt er. Der Großteil seiner Familie säße weiterhin in Homs fest. „Gott sei Dank funktioniert das Internet noch", sagt Anis. Er stehe in ständigem Kontakt mit seinen Angehörigen, die ihm von den Explosionen und Toten berichten, die es weiterhin täglich in Homs gebe.
Neben Anis sitzt Feras, 39 Jahre, Koch aus Damaskus. Feras lebt seit dreieinhalb Jahren in Weimar, gemeinsam mit seiner Frau, die Deutsche ist. „Der Großteil meiner Familie ist tot", sagt er. Zwei seiner Brüder und deren Söhne sowie weitere Verwandte seien von Assads Geheimpolizei grundlos verschleppt und zu Tode gefoltert worden.
Zweimal ist Feras in den vergangenen Monaten von Deutschland aus über die türkische Grenze bis ins syrische Kriegsgebiet gefahren - das erste Mal mit einem Krankenwagen und ein zweites Mal mit einem LKW voller Kleiderspenden. Feras berichtet von unzähligen Kriegswaisen, die allein und hungernd in den Trümmern der zerbombten Städte hausen. Um ihnen zu helfen, unternimmt er die gefährlichen Fahrten. „So viele unschuldige Menschen sind gestorben. Wo ist Europa und Amerika? Syrien braucht Demokratie und Freiheit und dafür brauchen wir eure Hilfe", sagt Feras und ringt mit den Tränen.
Eine Art GefühlsschleuseIn einer der öffentlichen Gesprächsrunden, die vor der Spielshow am Abend stattfinden, erzählt Baschar, ein junger Arzt aus Deir ez-Zor im Osten Syriens, wie er mit zwei Kollegen monatelang in einem Kellerloch Verwundete behandelte: Namenlose Patienten, die er ohne medizinische Ausrüstung zu retten versuchte und die unter seinen Händen starben. „Wenn ich heute Menschen lächeln sehe, denke ich an meine Patienten, wie sie geweint und gelitten haben und dass ich ihr Leid nicht lindern konnte" sagt Baschar. Er spricht sehr leise und sieht erschöpft aus.
Viele der Flüchtlinge, die hier sprechen, reden das erste Mal öffentlich von den Repressionen und körperlichen Qualen, die sie am eigenen Leib erleiden mussten. „Wir haben nur ein Setting geschaffen und ansonsten nichts vorgegeben. Die Exil-Syrer können sich 24 Stunden täglich das Mikrofon nehmen und reden, wenn sie wollen", sagt Ruch und fügt an: „Unsere Installation ist eine Art Gefühlsschleuse. Man kommt hier zufällig vorbei, geht in die Container, wird in Gespräche verwickelt und bekommt einen Eindruck dieser reinen Verzweiflung vermittelt, die die syrischen Menschen empfinden."
Am letzten Tag der Aktion stehen die Künstler und Helfer in kleinen Gruppen um die Container und den Gartenpavillon herum. Es wird gelacht und gescherzt. Fünf Tage lang haben sie gemeinsam den Witterungen getrotzt, haben bei Regen und Hitze vor den Containern ausgeharrt. Das schweißt zusammen. Trotz der ausgelassenen Stimmung herrscht auch Ernüchterung. „Ich bin extrem frustriert über die Abgebrühtheit vieler Deutscher, die hier vorbei gehen", sagt Ruch.
Er hätte sich mehr Kontroversen um seine Installation gewünscht, dass Menschen aus Wut oder Ekel die Bilder abreißen oder die Container beschädigen. Stattdessen seien die meisten an den Containern vorbei gelaufen, als zeige man hier etwas völlig Normales.
Nicht Wenige sind aber doch stehen geblieben, waren empört oder bewegt und wollten helfen. „Wir haben uns nicht eingebildet, dass man mit einer Aktion wie dieser einen Krieg stoppt", sagt Ruch, bevor er mit dem Abbau der Installation beginnt, „aber hoffentlich erwächst daraus eine Diskussion, die dann doch etwas bewirkt." Für Yasser, einem Architekturstudenten aus Damaskus, der vor anderthalb Jahren nach Deutschland flüchtete und bei der Aktion fast rund um die Uhr vor Ort war, hat sich die Aktion jedenfalls schon jetzt gelohnt. „Die fünf Tage haben mich stärker gemacht. Dieses Gefühl von Freiheit, darüber sprechen zu können, was mir widerfahren ist, was ich denke und wünsche, das war unglaublich schön", sagt Yasser.
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