Spiegel an Spiegel kriechen die beiden LKW durch die Autobahn-Baustelle auf der A3 zwischen Aschaffenburg und Würzburg. Obwohl Tempo 80 erlaubt ist, schaffen sie gerade mal 50. Trotzdem machen sie nicht Platz für die nachfolgende Autoschlange. Grund genug für viele Fahrer auszuflippen - Günther Hammer aber bleibt ruhig. Seit zwölf Jahren ist er auf der Strecke unterwegs, fast jeden Freitag und Sonntagabend pendelt er die 450 Kilometer zwischen seiner Heimatstadt Nürnberg und seiner Arbeitsstätte in Düsseldorf. Elefantenrennen, Staus und Baustellen stressen den 52-Jährigen nicht mehr.
Hammer gehört zur Gruppe der Fernpendler, Beschäftigte, die mehr als 150 Kilometer von ihrer Arbeitsstelle entfernt wohnen. Und deren Zahl steigt stetig. Waren es 2003 noch eine Million Menschen, zählte das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zehn Jahre später schon 1,2 Millionen.
Doch wer sind diese Leute? Wo wohnen sie und wo arbeiten sie? Das hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in einer Studie untersucht, die SPIEGEL ONLINE vorliegt.
Die interessantesten Erkenntnisse:
Entgegen dem früheren Trend nahm die Zahl der Einpendler in die ostdeutschen Bundesländer zwischen 2004 und 2014 stark zu. Dafür gibt es im Westen eine Region, die sich vom Trend steigender Pendlerzahlen abgekoppelt hat: der Ruhrpott. Dass die Arbeitnehmer hier weniger pendeln ist zwar gut für ihre Freizeit, wirtschaftlich gesehen allerdings kein positives Zeichen.Pendler sind ein Indiz für die wirtschaftliche Stärke einer Region. Sie sind im Schnitt besser qualifiziert und verdienen mehr Geld als Menschen, die im gleichen Ort wohnen und arbeiten. In den meisten Großstädten pendeln laut DGB zwei- bis dreimal so viele Menschen ein wie aus. Denn dort ballen sich die hochqualifizierten Jobs. In den Städten des Ruhrgebiets halten sich Ein- und Auspendler dagegen nahezu die Waage. "Strukturprobleme und hohe Arbeitslosigkeit machen die Region nicht attraktiv für Pendler", sagt Arbeitsmarkt-Experte Wilhelm Adamy vom DGB.
In Ostdeutschland wiederum gab es in den letzten Jahren einen kleinen Aufschwung: Universitäten und Technologiefirmen zogen auch Hochqualifizierte aus dem Westen an. Mittlerweile sind es etwa doppelt so viele wie vor zehn Jahren, die sich für die Arbeit auf den Weg in den Osten machen. Den umgekehrten Weg von Ost nach West nehmen aber immer noch viermal mehr Menschen: 327.000 insgesamt (siehe Grafik).
Auch die Nord-Süd-Achse wird immer wichtiger. Etwa 300.000 Menschen pendeln aus den alten Bundesländern täglich nach Bayern und Baden-Württemberg ein, während 250.000 Süddeutsche in Hessen, Rheinland-Pfalz oder nördlicher arbeiten.
Pendler spielen in Großstädten eine unterschiedlich große Rolle. Während laut DGB-Papier in Berlin nur gut 22 Prozent der sozialversichert Beschäftigten von außerhalb kommen, sind es in München und Köln fast 50 Prozent. Wohnten sie früher hauptsächlich im Umland der Großstädte, kommen heute immer mehr Pendler aus anderen Großstädten. Ihre Zahl ist der BBSR-Studie zufolge im Vergleich von 2002 zu 2013 um ein Viertel gestiegen. Grund dafür sei die "qualitativ sehr gute verkehrliche Vernetzung".
Günther Hammer kann darüber bei den vielen Baustellen auf der A3 nur lachen. "Vielleicht darf ich es ja noch erleben, dass ich komplett dreispurig von Nürnberg nach Düsseldorf komme", meint er.
Auf seinem Weg überquert er vier Landesgrenzen. Auch viele seiner Kollegen wohnen und arbeiten in verschiedenen Bundesländern, ein weiterer Trend unter den Berufsnomaden. Um ein gutes Viertel ist der Arbeitnehmeraustausch zwischen den Ländern im Bundesschnitt gestiegen, besonders stark im Osten. In absoluten Zahlen gibt es dabei große Unterschiede. Nach Mecklenburg-Vorpommern pendelten 2014 beispielsweise nur 27.000 Menschen, während Hessen, NRW und Baden-Württemberg mit jeweils mehr als 340.000 Einpendlern die beliebtesten Bundesländer sind.
Für den typischen Fernpendler ist Hammer ein gutes Beispiel: Er ist promovierter Physiker, hat Frau und zwei Söhne und ist Alleinverdiener. Seine Familie sieht er nur am Wochenende. "Das Pendeln ist ein notwendiges Übel", sagt er.
Hammer wechselte nach Düsseldorf zu einem Mobilfunkanbieter ins Management, weil er dort bessere Karrierechancen sah. Frau und Kindern wollte er den Umzug aber nicht zumuten, so wie viele Pendler. DGB-Experte Adamy erklärt das mit der insgesamt gestiegenen Berufstätigkeit bei Frauen: "Wenn sie hinterherzieht, ist das Risiko groß, dass sie keine gleichwertige Stelle mehr findet."
Doch auch wenn ein Teil zu Hause bleibt, drohen Probleme. "Es wird für alle Beteiligten schwieriger, Privatleben und Beruf unter einen Hut zu bringen", schreibt Adamy in seinem Papier. Als besonders belastend werde der Mangel an Zeit empfunden, denn die Anfahrt geht von der Freizeit ab. Bei Hammer sind das zwischen vier und sechs Stunden pro Strecke, je nach Verkehrsaufkommen. "Es ist schon ein gewisser Stressfaktor zusätzlich da", meint er. Weil er nur am Wochenende da sei, sei etwa die Erziehung der Söhne hauptsächlich an seiner Frau hängengeblieben. Und einen Freundeskreis habe er sich in Düsseldorf auch nicht aufgebaut. Das bedeute viele Abende allein in der Zweitwohnung. "Mein sozialer Mittelpunkt bleibt Nürnberg."
Vom Homeoffice, wie es der DGB als Lösung fordert, hält Hammer wenig. Zwar würde sein Arbeitgeber erlauben, dass er zwei Tage die Woche von zu Hause aus arbeitet. "Bei der Entfernung macht es aber nur die ganze Woche Sinn." So wird Hammer auch weiterhin ein Teil der wachsenden Pendlerstatistik bleiben. Damit die Strecken im Auto nicht zu langweilig werden, bietet er die Fahrt in einer Mitfahrzentrale an: "Das schont die Benzinkasse und man lernt viele interessante Leute kennen."