Was wäre die Kunstwelt ohne Schwänze?
Siri Hustvedts sechster Roman ist ein Buch der Masken und Täuschungen. In Form einer fiktiven, aus verschiedensten Texten (Notizen, Interviews, Rezensionen et cetera) bestehenden Anthologie über Leben und Werk der Künstlerin Harriet Burden werden die Leserinnen und Leser vom Herausgeber an die Geschichte von Burdens großem „Wahrnehmungsexperiment“ herangeführt.
Burden, mittlerweile reiche Witwe eines Kunsthändlers, war sich stets gewiss, aufgrund ihres Geschlechts nicht anerkannt zu werden. Nach dem Tod ihres Mannes zieht sich die stupend belesene Egomanin zurück und beschließt, der New Yorker Kunstszene deren Sexismus und Blasiertheit nachzuweisen. Über Jahre hinweg lässt sie ihre Werke unter den Namen von drei männlichen Künstlern ausstellen. Gleichzeitig bereitet sie sich auf den Tag vor, an dem sie ihren Coup enthüllen wird. Ihr Kalkül geht vorerst auf: Die Werke werden von den Kritikern munter mit den Biografien der Strohmänner verwoben.
Harriet sieht sich bestätigt, sie kontrolliert den „Schwanz und das Paar Eier“ nach denen die Kunstwelt giert. Doch dann widersetzt sich ihr der dritte Stellvertreter, der unnahbare Superstar Rune. Subtil konfrontiert Hustvedt den Leser mit genau jener gesteuerten Wahrnehmung, die ihre Heldin entlarven will. In ihren Notizbüchern erscheint uns Harriet als geistig überlegene Rächerin, in den gehässigen Interviews offenbart sie die sinistre Seite ihres Charakters.
Das umfangreiche philosophische Unterfutter gerät erfreulicherweise nie zur Faktenhuberei: „Die gleißende Welt“ ist nicht nur der Titel eines utopischen Romans von Burdens „Lady der Kontemplation“, Margaret Cavendish, aus dem Jahr 1666, sondern auch der Titel von Burdens letzter Installation – einer monströsen „Haus-Frau“, die aus Kopf und Vagina Figuren gebiert. Bei allem Anspielungsreichtum und aller Vielschichtigkeit entgeht Hustvedt dem eigentümlichen Schwindel, der sich einstellt, wenn Romane alle vermeintlichen Gewissheiten als Fiktion entlarven, und entwickelt einen ganz persönlichen und souveränen Klassizismus.
FALTER 24/2015 vom 12.06.2015 (S. 30)
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