Im Grünen-Büro in der Münchner Innenstadt schieben sich Kamerateams durch die Menge. Die Parteimitglieder decken sich mit grünen Fahnen für die #ausgehetzt-Demonstration gegen die CSU ein. In der Mitte des Raumes steht Katharina Schulze, 33, blonde Haare und laute Stimme. Ihre pinke Jacke sticht hervor, ebenso das strahlende Lächeln. Die bayerische Fraktionsvorsitzende grüßt, gibt Interviews, postet bei Facebook. „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Demokleidung", ruft sie einer Parteifreundin zu. Draußen regnet es in Strömen.
Seit Schwarz-Grün in Bayern rechnerisch eine Option ist, ist das mediale Interesse an der grünen Spitzenkandidatin stark gewachsen. Schulze ist eine „neue Grüne" - wie die Bundesparteivorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock. Sie hat eine steile politische Karriere hinter sich. Vor zehn Jahren trat sie der Parteijugend bei, zwei Jahre später war sie Vorsitzende der Grünen in München. Sie organisierte zwei Bürgerentscheide mit, einen gegen die dritte Startbahn am Münchner Flughafen, den anderen gegen die Bewerbung der Stadt auf die Olympischen Winterspiele 2022. Beide Entscheide waren erfolgreich, sehr zum Ärger der CSU - und von Claudia Roth, die selbst im Kuratorium für die Olympia-Bewerbung saß. Schulze war damals gerade 25 Jahre alt. Anfang dieses Jahres wählte die Parteibasis sie zusammen mit Ludwig Hartmann zur Spitzenkandidatin für die Landtagswahl im Oktober - mit fast 90 Prozent Zustimmung.
Schulze will weder Fundi noch Realo sein. „Wir haben 2018, und die Zeit läuft uns davon, etwa beim Klimawandel. Da muss man irgendwann in Regierungsverantwortung, damit man was umsetzen kann." Sie scheut sich nicht, über Heimat zu sprechen: „Ich habe kein Problem mit dem Begriff. Für mich ist Heimat nicht ausgrenzend, sondern der Ort, den alle mitgestalten können, die hier leben." Und ein bisschen bayerisches Klischee findet man bei ihr auch. Im Dirndl zum Oktoberfest? „Ja, klar, ich mag das". Nur auf Weißwurst verzichtet die Vegetarierin.
Die Gruppe um Schulze erreicht die Kundgebung auf der Theresienwiese. Um ein altes Feuerwehrauto, das als Bühne dient, haben sich einige Hundert Demonstranten versammelt. Später werden es über 25.000 sein. Zusammen mit Kandidaten der Linken, der SPD und der Piraten klettert Schulze auf das Feuerwehrauto. „Es gibt einen Satz," beginnt sie ihre Rede: „Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet's auch." Es liegt auch an solchen Sätzen, im Dauerregen fröhlich in die Menge geschmettert, dass sie begeistert. Ihre Stimme weckt auf, der Applaus fällt eine Nuance lauter aus. „Die CSU schränkt im Polizeiaufgabengesetz Freiheitsrechte ein", ruft sie ins Publikum, „dabei ist Bayern sicher, auch dank der guten Arbeit der Polizei." Auch das gehört zu Schulze. Sie bricht mit linken Bräuchen, lobt die Sicherheitsbehörden. 2016 hat sie den ersten grünen Polizeikongress mitveranstaltet. „Klar sollten wir kritisieren, was schiefläuft, aber auch würdigen, was die Polizei alles gut macht", sagt sie.
Es ist die zweite Großdemonstration in München innerhalb weniger Monate. Bayern ist mitten im Wahlkampf, im Oktober könnte sich die politische Landschaft im Freistaat grundlegend ändern. Sieben Parteien haben eine realistische Chance, ins Parlament zu kommen, aktuell sitzen dort nur vier. Die CSU hat Bayern seit über 50 Jahren allein regiert, mit einer kurzen Unterbrechung in der vorletzten Legislaturperiode. Aktuell aber steht die Partei in den Umfragen mit 38 Prozent in einem historischen Tief. An der Macht bleiben könnte sie trotzdem - mithilfe der Grünen. Die sind aktuell mit 16 Prozent zweitstärkste Kraft. „Es gibt viele in Bayern, die eine neue politische Heimat suchen", sagt Schulze, „und es gehört in der Politik dazu, sich zu verändern und Kompromisse zu machen."
Die Koalitionsfrage treibt auch Grünen-Wähler um. Auf der Demo spricht ein Teilnehmer Schulze an. Sie nimmt sich Zeit: „Wir Grüne sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. Aber mit so einer CSU kann man einfach keinen Staat machen. Die müssen von ihrem Trip runterkommen." Was, wenn die CSU ihre Strategie in den kommenden drei Monaten ändert? Man erfährt es nicht.
Nach Schulze spricht Ates Gürpinar, Spitzenkandidat der Linkspartei. Er hat auf die Koalitionsfrage eine einfache Antwort: „Bevor wir mit Söder koalieren, ertränken wir uns in der Isar." Gürpinar und Schulze kennen sich aus der Politik. „Sie steht im Mittelpunkt", sagt er, „eher durch ihre Art, nicht um sich nach vorn zu drängeln." Aber er glaubt trotzdem, dass sie bereit ist, für eine Koalition mit der CSU schmerzhafte Kompromisse zu machen.
Am Nachmittag kommt die Demo am Königsplatz an. Ein Meer von Köpfen, Fahnen und Plakaten. Schulze steht hinter der großen Bühne. Davor warten mehrere Zehntausend Menschen auf die Abschlusskundgebung. Parolen schallen herüber. „Ein bisschen Anspannung merke ich schon", sagt sie lachend und schaut zu den anderen Rednern, „die haben alle einen Text vorbereitet, nur ich nicht." Ihre Rede erntet trotzdem begeisterten Applaus. Die Botschaft: „14. Oktober: CSU abwählen."
Nach der Demo sitzt Schulze im Café, erschöpft, aber strahlend. Die Schulze, die Reden hält, unterscheidet sich kaum von der, die beim Kaffee plaudert. Sie verstellt sich nicht, um Politik zu machen. Aber durchschauen lässt sie sich auch nicht. Koalition mit der CSU oder Widerstand in der Opposition? Die Möglichkeit, Themen in der Regierung voranzubringen, gegen die Gefahr, die Glaubhaftigkeit zu verspielen? Was Schulze für die Zeit nach der Wahl auch plant - sie behält es für sich.