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Ungarns Anti-LGBTQ-Gesetz: "Wir haben Angst, alles zu verlieren" | DW | 21.07.2021

Wenn Boldizsár Nagy über das spricht, was ihm in den vergangenen Monaten widerfahren ist, stockt einem nicht selten der Atem. Lange war er ein unbekannter Journalist und Kinderbuchredakteur, "niemand Besonderes", sagt er. Und auch als er zusammen mit Kollegen im vergangenen Jahr das Märchenbuch "Märchenland für alle" (ungarisch: "Meseország Mindenkié") veröffentlichte, dachte er, es würde vielleicht ein paar Artikel darüber in der Presse geben, mehr nicht. Doch es kam anders. Eine rechtsradikale Politikerin schredderte sein Werk vor laufenden Kameras, weil darin auch Homosexuelle, Transgender und Roma vorkommen. Ungarns Kanzleramtsminister nannte es wenig später "homosexuelle Propaganda".


Bis heute bekommt Nagy, der selbst homosexuell ist, täglich Morddrohungen über die sozialen Netzwerke. Auf der Straße schaut er sich nun oft um, vor allem nachts. Er fühlt sich nicht mehr sicher. "Das ist meine neue Realität", sagt er. Nur kurz, fast schüchtern, zeigt er auf seinen Ring. Vor fünf Jahren hat er sich mit seinem Partner verlobt, seit diesem Jahr haben sie die eingetragene Lebenspartnerschaft. Seitdem wollen sie ein Kind adoptieren. Doch immer wieder würden ihnen von den Behörden Steine in den Weg gelegt. Deshalb hätten sie bereits damals beschlossen, das Land zu verlassen, sagt Nagy. Wohin sie gehen, will er lieber nicht sagen.

Referendum soll Klarheit bringen

Seit einigen Monaten verschärft Ungarns rechtsnationalistische Regierung von Premierminister Viktor Orbán den Ton gegenüber LGBTQ-Menschen. Im Mai 2020 erließ sie ein Gesetz, das Transmenschen verbietet, ihr Geschlecht zu ändern. Wenig später schrieb sie den Satz: "Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann" in die Verfassung und erließ gleichzeitig ein Gesetz, das es gleichgeschlechtlichen Paaren de facto unmöglich macht, Kinder zu adoptieren. Vor gut einem Monat folgte schließlich ein Gesetz, das weltweit für Entrüstung sorgte. Es verbietet das "Bewerben und Darstellen" von Homosexualität und Sex gegenüber Minderjährigen generell.

Aufgrund der anhaltenden Kritik kündigte Orbán am Mittwoch (21.07.2021) an, ein Referendum über das Gesetz abhalten zu wollen. Er rief die Bevölkerung allerdings dazu auf, das Gesetz mit ihrer Stimme gegen vermeintliche Angriffe aus Brüssel zu unterstützen.

Aktuelle Plakatkampagne der Orbán-Regierung in Budapest: "Haben Sie Angst um ihr Kind wegen sexueller Propaganda?"

Das Gesetz sorgte jedoch nicht nur in Europa, sondern auch in Ungarn für harsche Kritik. Besonders Kulturschaffende sind besorgt. Sie fürchten willkürliche Zensurmaßnahmen. "Wollen sie jetzt Kunstausstellungen und Bibliotheken schließen? Wollen sie Shakespeare in den Schulen verbieten, weil es darin homosexuelle Charaktere gibt?", fragt Kriszta Székely, Regisseurin am Budapester József Katona Theater, im Gespräch mit der DW.

"Wollen sie jetzt Shakespeare in den Schulen verbieten?"

Für sie persönlich als offen lesbische Künstlerin sei das Gesetz sehr verletzend gewesen, so Székely. "Es ist so, als würden sie sagen: 'Bleib im Verborgenen, bleib unbemerkt und sei froh, dass wir dich so leben lassen'." Sie befürchtet, dass sich Künstler in Zukunft selbst zensieren oder dass - sollten sie sich nicht an das neue Gesetz halten - Strafzahlungen auf sie zukommen könnten.

Erst Anfang Juli wurde Ungarns zweitgrößte Buchhandlung Líra Könyv zu einer Geldstrafe von umgerechnet rund 700 Euro verurteilt. Die zuständige Regierungsbehörde beklagte, man habe Kundinnen und Kunden nicht ausreichend vor einem Buch gewarnt, das eine Familie mit gleichgeschlechtlichem Elternpaar zeige. Das Buch hätte mit einem Hinweis versehen werden müssen, der besagt, dass dessen "Inhalt von der Norm abweicht", so die Regierungsbehörde. Um weitere Strafen zu vermeiden, entschloss sich Líra Könyv dazu, nun entsprechende Warnhinweise am Eingang aller ihrer Filialen zu platzieren.

Warnhinweise in Buchläden

András Ürögdi, Geschäftsführer von Ungarns größter Kinderbuchladen-Kette Pagony, weigert sich, einen solchen Warnhinweis in seinen insgesamt elf Filialen anzubringen: "Wir werden selbstverständlich jetzt nicht anfangen, Bücher auf dem ungarischen Markt zu zensieren", so Ürögdi im DW-Gespräch. Auch er beklagt, wie vage das Gesetz formuliert ist. Es sei fast unmöglich, es praktisch umzusetzen. Nicht nur deshalb lehne fast der gesamte ungarische Buchmarkt das Gesetz entschieden ab, erklärt Ürögdi. "Der Begriff Zensur hat in Ungarn einen sehr schlechten Beigeschmack, wenn man an die 40 Jahre sowjetische Diktatur denkt. Dementsprechend lässt alles, was auch nur annähernd an Zensur erinnert, bei ungarischen Buchhändlern die Alarmglocken läuten."

Warnhinweis in einer Buchhandlung in Budapest: "In dieser Buchhandlung verkaufen wir auch Bücher mit nicht traditionellen Inhalten"

Ürögdi erinnert sich an den vergangenen Herbst, als auch er Boldizsár Nagys Buch "Märchenland für alle" in seinen Filialen anbot. Es folgten belästigende E-Mails und Anrufe, "ekelhafte" Poster wurden an die Wände seiner Buchhandlungen geklebt. Damals hätten jene, die LGBTQ-Menschen und Büchern, die diese Gruppe auch nur erwähnten, feindlich gegenüberstanden, keine rechtliche Grundlage gehabt, um Buchhandlungen und Verlage zu belästigen, sagt Ürögdi. "Aber jetzt können sie aufgrund dieses inkohärenten und unverständlichen Gesetzes von Buchhandlung zu Buchhandlung gehen und sie bei den Behörden anzeigen. Und das ist sehr, sehr beunruhigend."

Gegenbewegung gibt Hoffnung

Wer mit Kulturschaffenden in Ungarn spricht, spürt vor allem ihre Resignation. Viele - auch Boldizsár Nagy - denken daran, das Land zu verlassen, besonders LGBTQ-Menschen. "Nach diesem Gesetz kann alles passieren. Wir haben Angst, alles zu verlieren", sagt Nagy. Auch Tibor Stefán-Rácz, ein bekannter homosexueller Jugendbuchautor, der in seinen Büchern immer wieder LGBTQ-Themen aufgreift, ist besorgt. "Ich glaube, viele von uns haben darüber nachgedacht. Ich bin zu der Entscheidung gekommen, dass ich das Land verlassen werde, sollte Fidesz 2022 erneut die Wahlen gewinnen", schreibt er der DW in einer E-Mail.

Tausende protestierten Mitte Juni gegen das Anti-LGBTQ-Gesetz der Orbán-Regierung

Doch es gibt auch Grund zur Hoffnung für die LGBTQ-Community - denn aus der ganzen Welt kommen Solidaritätsbekundungen. Die Europäische Kommission verurteilte das Gesetz scharf und leitete gleich zwei Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn ein. "Prominente, Schauspieler, Künstler und Politiker setzen sich nun aktiver als je zuvor für unsere Community ein", sagt Theaterregisseurin Kriszta Székely. "Es [das Gesetz - Anm. d. Red.] vereint viele Menschen, die dagegen sind. Jetzt sind wir endlich sichtbar", sagt Journalist und Redakteur Nagy. Er hofft, dass viele Menschen beim Budapest Pride March am kommenden Wochenende (24.07.2021) auf die Straße gehen werden.

Die ungarische Regierung zeigt sich indes vom wachsenden Widerstand gegen ihr Gesetz unbeeindruckt. Jegliche Kritik wies sie als "internationale Hasskampagne gegen Ungarn" zurück.

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