Ein gängiges Narrativ des rechten Kulturkampfes ist seine Feinderklärung gegen den "Geist von 68", der mal als Autoritäts- und Bindungslosigkeit, mal als hedonistische Permissivität und aktuell als geifernde Wutrede gegen alles "links-rot-grün-Versiffte" ausbuchstabiert wird. In den zahlreichen Analysen des grassierenden Rechtspopulismus wird die Neue Rechte dementsprechend als konservative Abwehrreaktion auf kulturellen Wandel und gesellschaftliche Liberalisierung gedeutet.
Doch bereits ein Blick auf einige Akteure der Studentenrevolte irritiert dieses Bild. Nicht wenige von ihnen schwammen zielstrebig in neurechte Gewässer, statt den langen Marsch durch die Institutionen anzutreten. Horst Mahler, Günther Maschke, Bernd Rabehl, Frank Böckelmann, Matthias Matussek und Rolf Peter Sieferle sind nur die Prominentesten dieser Renegaten, die heute nicht mehr gegen die Entfremdung durch den Kapitalismus, sondern die vermeintliche "Überfremdung" von Volk und Identität kämpfen.
Das ambivalente Verhältnis zur 68er-Revolte wird in den auflagenstarken Veröffentlichungen zur Neuen Rechten meist nur als Fußnotenthema behandelt. Thomas Wagners Buch Die Angstmacher ist erfrischend anders und unterscheidet sich auch in anderen Punkten von der "akademischen Hyperkritik", die die Neue Rechte meist aus der Warte der Rechtsextremismusforschung betrachtet und auf Kontinuitäten zum Nationalsozialismus befragt. Für sein Buch suchte er Kontakt mit neurechten ProtagonistInnen wie Götz Kubitschek, Ellen Kositza, Benedikt Kaiser und Martin Sellner, die überraschend offen über ihren politischen Werdegang sprechen.
Man erfährt aus erster Hand, dass Kubitschek als Jugendlicher in Ravensburg einst gegen die Eröffnung eines McDonalds demonstrierte und die SDS-Aktivisten Rabehl und Maschke zu seinen persönlichen Lehrmeistern zählt. Mit dem enttäuschten Situationisten Frank Böckelmann und dem jüngst verstorbenen Henning Eichberg ging Wagner auf die Suche nach ihrer Bewegungsbiographie und entlockte ihnen dabei aufschlussreiche Einschätzungen und Anekdoten.
Gibt es eine immanente Kontinuität, die die Neuen Rechten mit der 68er-Revolte verbindet? Oder ist alles nur Diskurs- und Aktionspiraterie, wenn sich heute eine "Konservativ-Subversive Aktion" als Bürgerschreck geriert? Für Wagner ist klar, dass "1968 auch für das konservative Lager einen Bruch bedeutete, der bis heute nachwirkt." Plötzlich entstand ein Bedürfnis nach rechter Theorie und Interesse an neomarxistischen und antiimperialistischen Analysen, die synkretistisch in neurechte Gedankengänge eingebaut wurden - bisweilen mit überraschender Sympathie für den politischen Gegner. "1968 war eine Revolution, die so fällig war wie ein reifer Apfel", gesteht Ellen Kositza im Gespräch mit Wagner. Auch Kubitschek äußert sein "Grundinteresse an Leuten, die Projekte verwirklichen, die jenseits normaler bürgerlicher Karrieren liegen." Er interessiere sich für den "existentialistischen Impuls in den Lebensentwürfen der Wortführer und Protagonisten der Neuen Linken".
Neben Konvergenzen im antiimperialistischen Weltbild sind es vor allem der Geist des narzisstischen Tabubruchs und die unbedingte Provokation, die Kubitschek an den 68ern faszinieren. Böckelmann benennt "Entgrenzung und Grenzüberschreitung" als Movens der von ihm gegründeten Subversiven Aktion. Selten sei es um soziale Fragen gegangen. Martin Sellner von der Identitären Bewegung geht noch einen Schritt weiter in der selbstbewussten Adaption von Aktionsformen: Die Mittel, die die Identitären von der Linken adaptieren, würden im Grunde gar nicht zu dieser passen. Sie seien mit einem starken Ästhetizismus verbunden und hätten einen symbolischen Charakter, der fast schon an magische Rituale erinnere.
Wer die soziale Tiefendimension hinter dem Aufstieg der Neuen Rechten verstehen will, findet in den 21 Kapiteln meist nur Reflexionsanstöße. Vieles hat anekdotischen Charakter, und wo Wagner analytisch wird, geht es um den richtigen Umgang mit der Neuen Rechten und die Fehler der Linken. Statt sich auf Identitätspolitk zu versteifen und eine Praxis moralischer Interventionen zu pflegen, solle die Linke ihre theoretische Überlegenheit in der Analyse des Kapitalismus offensiv herausstellen und die argumentative Auseinandersetzung suchen. In Passagen wie diesen gelingt ein schwieriger Spagat: Wagner hört seinen neurechten Interviewpartnern aufmerksam und gar respektvoll zu, ohne ihnen ein Podium zu gewähren. Bei aller Neugier ist er bedacht, stets die offenkundigen Widersprüche und unausgesprochenen Konsequenzen des rechten Denkens offenzulegen.
Der Soziologe weiß um die Gefahr, die von rechten Angstmachern ausgeht und nimmt ihre intellektuellen Stichwortgeber deshalb ernst. Man merkt dem Buch keine Sympathie, aber aufrichtiges Interesse an seinem Gegenstand an. So hat Wagner profundes Material zusammengetragen, das selbst bei seinen Gegnern auf Anerkennung stößt. Die von ihm interviewte Kositza vermerkte in einer Rezension: "Manches aus den ‚Urgründen' der Neuen Rechten kannte Wagner besser als wir!"
Felix Schilk
Thomas Wagner: Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 352 Seiten. 18,95 Euro.